Flecken der Anarchie

Gewürzgrenzen und Brüderlichkeit: Simone Perotti lotet in seinem „Atlas der Mittelmeerinseln“ einen Kulturraum neu aus

Simone Perotti: „Atlas der Mittelmeerinseln“. Übers. v. J. Brandestini. Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 144 S., 34 Euro

Von Tim Caspar Boehme

Mehr als 4.300 Inseln gibt es im Mittelmeer. Große wie Sizilien, Zypern oder Malta und viele kleine und sehr, sehr kleine. Auf 0,02 Quadratkilometer Fläche bringt es das kleinste Eiland, das der italienische Schriftsteller Simone Perotti in seinem „Atlas der Mittelmeerinseln“ verzeichnet hat. Nelson-Insel heißt es, gehört zu Ägypten und ist eine von insgesamt 42 Inseln, die der seit 2014 durch das Mittelmeer segelnde Perotti in seinem Buch vorstellt. Die wenigsten von ihnen dürften sich allgemeiner Bekanntheit erfreuen, Lampedusa und Ithaka zählen zu den Ausnahmen.

Mit seinem Atlas beabsichtigt Perotti denn auch das Gegenteil einer touristischen Serviceleistung. Vielmehr will er den Kulturraum des Mittelmeers neu erschließen und vermessen, träumt von die übliche Kartografie hinter sich lassenden Einteilungen in „Inseln des Wortes“, „Inseln der Tragödie“ oder „Inseln des Schweigens“, er imaginiert anstelle von Demarkationslinien etwa „Gewürzgrenzen“, die eine „wunderbare Landkarte“ ergeben, die für „Brüderlichkeit“ statt für Trennung sorgt. Um diesen Anspruch geopolitisch sichtbar zu machen, hat er mit der Gefängnisinsel İmralı, auf der Abdullah Öcalan seit 1999 inhaftiert ist, eine Landmasse aus dem Marmarameer und mit Sweti Iwan und Beresan noch zwei – unbewohnte – Inseln aus dem Schwarzen Meer in seinen Atlas aufgenommen.

Jede Insel hat ihre eigene Karte, wobei in der Legende am Ende des Buchs ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die Abbildungen nicht als Seekarten geeignet sind. In den knappen Beschreibungen zu den einzelnen Inseln stehen stichpunktartige Angaben zu Erscheinungsbild, Fläche, Einwohnerzahl und Klima. Letzteres im übertragenden Sinne, wahlweise charakterisiert als „unbegreiflich faszinierend“ (Isla de las Palomas), „surreal, macht anfällig für bezaubertes Staunen“ (Tavolara) oder „verzweifelt“ (İmralı – Öcalan saß die ersten zehn Jahre seiner Haft dort als einziger Insasse ein).

Die eigentlichen Einträge Perottis zu den Inseln sind literarische Miniaturen, die Motive aus deren Geschichte mehr oder minder direkt aufgreifen. Am Ende jedes dieser Texte folgt eine kurze Notiz mit geschichtlich wichtigen Daten. Einige Inseln haben selbst schon eine prominente literarische Geschichte vorzuweisen, wie Procida im Golf von Neapel, auf der Elsa Morantes wunderbarer Roman „Arturos Insel“ spielt.

Auf einer anderen Ebene ist das Buch durchzogen von der heutigen Realität des Mittelmeerraums als Migrationsroute und Massengrab: Von „Karten für die Flucht“ spricht Perotti in seiner Einleitung und von „Karten für diejenigen, die verzweifelt nach Hause zurückkehren wollen, vor allem, wenn sie nicht wissen, was ihr Vaterland ist“. Sein Text zu Lampedusa ist eine fiktive Szene zwischen vor Kurzem auf der Insel angekommenen Flüchtlingen und einem Geist aus der Vergangenheit, den ein ähnliches Schicksal dorthin trieb.

An den Inseln fasziniert Perotti stets ihre randständige Lage dank ihrer „pelagischen Natur“, zu Deutsch wegen ihrer Position mitten im freien Meerwasser. Was sie einerseits prädestiniert für ihren verbreiteten Missbrauch als Gefängnis für „Verrückte, Abweichler, Andersartige“, was sich andererseits aber auch in gegenteiliger Form politisch bemerkbar macht: „Bis heute“, schreibt er, „ist eine Insel ein Stück anarchischer Boden“, ein Raum für Abenteurer, der, wenn er könnte, selbst „in See stechen und über das Meer verschwinden würde“. Mit diesem Atlas kann man Letzteres in der Fantasie schon einmal selbst erproben.