KNABENKRAUT
: Gefräßige Schönheit

Der Altersdurchschnitt ist um die 63

„Junge Frau, wo wollen Sie hin?!?“ Ein älterer Herr schreit mich an, als ich mich an der langen Schlange, die im Botanischen Garten vor der Orchideenschau wartet, vorbeischwingen will. Als ich den Zauberspruch, den Namen des Gruppenleiters der Deutschen Orchideengesellschaft, Jörg Bohn, erwähne, darf ich durch den Seiteneingang die heiligen Hallen des Neuen Glashauses betreten und ins Paradies der über 800 Quadratmeter großen Orchideenschau gelangen.

Jörg Bohn ist am dritten Tag der Ausstellung erschöpft, dennoch bleibt er sehr herzlich. Seine Führung ist berauschend. Schrill und schreiend sind die Pflanzen, mit großen, farbenprächtigen Lippen, als würden sie die unaufmerksamen Beobachter verzehren wollen.

Die Pflanze fasziniert die Menschheit schon seit mehr als 2.500 Jahren, auch die Mitglieder der Deutschen Orchideengesellschaft pflegen diese Faszination. Der Altersdurchschnitt des Vereins ist um die 63, sie kommen einmal im Monat zusammen und unterhalten sich bei Wein und Kuchen über ihre Lieblinge, die sie zu Hause züchten. Die Orchideenschau im Botanischen Garten ist ein Highlight ihrer Tätigkeit.

Die Ausstellungsbesucher kommen aus den verschiedensten sozialen Milieus. Eine Punkerin mit Halbglatze und sich in den Himmel streckenden schwarzen Haaren bestaunt eine duftende Cattleya-Sorte. Sie erklärt ihrem Rasta-Freund, woher der Name der Blume stammt: von dem griechischen Wort für Hoden, Orchis. Wegen der zwei hodenförmigen Wurzelknollen der Knabenkräuter, einer Gattung der Orchideen. Laut vorchristlichem Aberglauben gebären Frauen, die die stärkere und saftigere der beiden Knollen aßen, einen Knaben. Anscheinend funktioniert der Zauber immer noch, die Verkaufsstände der Orchideenschau sind leergekauft, Züchter und Publikum zufrieden. ANNA FRENYO