Buchrezensionen

Konsequente Monoperspektive, sie gehörte hier nicht her, „here in Berlin“, Herrschsucht und Hang zum Faschismus, Bericht ohne Dialog, der Raum sollte später das Wohnzimmer werden, die planetarischen Buchhalter rechneten nicht mit den Schweinen, dein Computer kennt dich, eine transformierte Ich-Erzählung, glücklich ist doch anders, man kennt derlei szenische Darstellung und der Mann jettet um die Welt.

Die Mutter!

Eine Gesanglehrerin steckt in dem kleinen niederländischen Städtchen Gouda fest – in einer gänzlich asymmetrischen Beziehung. Sie verdient kaum Geld, hat sich in die Abhängigkeit eines unsensiblen, manipulativen Technokraten begeben, der ihre Versuche, die Ehe zu retten, nur noch mit Spott bedenkt. Auch nach einer offenen Affäre des Mannes trennt sie sich nicht, vor allem weil sie das Zusammenleben mit einer egomanen, herrschsüchtigen Person nur allzu gut aus ihrer Kindheit kennt. Die Mutter!

Großmetapher der ehelichen Zerrüttung ist die heruntergekommene, schimmelnde Bruchbude, die der ständig um die Welt jettende Mann ihr zuliebe gekauft hat und aus halb bewusster Rache immer nur notdürftig bewohnbar hält. Durch die beinahe kammerspielhafte Konzentration auf das Haus als Ort der Handlung entsteht eine klaustrophobische Stimmung, die den Gemütszustand der Heldin einfängt.

Dieser gänzlich dialoglose Bericht von einer scheiternden Ehe liest sich wie eine – womöglich um Distanz zur eigenen Scham und Verletztheit zu gewinnen – erst nachträglich in die personale Erzählsituation transformierte Ich-Erzählung. Die konsequente Monoperspektive verleiht ihr etwas Einseitiges und manchmal auch Selbstgerechtes. Die Erzählerin ist Partei. Sie gönnt dem Mann keinerlei szenische Darstellung, in der er sich objektiver präsentieren könnte.

Aber gut, das Buch ist eine literarische Selbstermächtigung, der Versuch, die Herrschaft über das eigene Leben zurückzugewinnen – der Ernstfall mithin. Man merkt jederzeit, dass es geschrieben werden musste, das macht seine Unausgewogenheit verständlich und macht etwaige ästhetische Defizite wett. Frank Schäfer

Persephone Abbott: „Ein rasch gesponnenes Netz“. Aus dem Englischen von Günter Ohnemus. Maro Verlag, Augsburg 2018, 145 Seiten, 18 Euro

Hexenbrennen

Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Das Buch zu Chemnitz, der Roman der Stunde, das Werk, das endlich den Osten und den Hang zum Faschismus, zum Rassismus erklärt – das alles ist dieses Debüt des 1994 im ostsächsischen Räckelwitz geborenen Lukas Rietzschel nicht. Jedenfalls nicht unbedingt. Es ist auch literarisch nicht eben die Neuerfindung des Rads.

Es ist nicht schlecht, es ist ordentlich, sprachlich aber eher simpel erzählt: Zwei Brüder wachsen in dörflichen Verhältnissen Anfang des neuen Jahrtausends in Neschwitz, irgendwo in der Lausitz, auf. Die Familie hat sich ein neues Haus gekauft, einer der im Sturm der Nachwendezeit verlorenen Arbeiter hat schwarz ausgeholfen. Im Dorf gibt es ein „Hexenbrennen“, eine Art Walpurgisnacht, und andere Dorffeste, auf denen tüchtig gesoffen und übertreten wird.

Überhaupt kommt chronologisch alles historisch sehr stimmig vor: Flugzeuge fliegen in das World Trade Center, es folgen Kriege in der arabischen Region, irgendwann gibt es ein Jahrhunderthochwasser in Dresden. Rietzschel erzählt tatsächlich eine „Chronik des Zusammenbruchs“, im Großen und Kleinen, ganz wie es der Klappentext verspricht: Aus Tobi und Philipp, den beiden Brüdern, werden zuerst unauffällige Schüler, die den allgemeinen Zerfall miterleben, bis sie in die Kreise des Dorf-Nazis geraten. Wobei das ein Euphemismus für „Teil werden der“ ist.

Auch die sattsam bekannte Pro­ble­matik rund um unvollzogene Einheit, alte und neue Ost-Nazis, Pegida, AfD, besorgte Bürger etc. wird sorgsam chronologisch nachgezeichnet. Erklärungen aber bietet der Roman, der sich sichtbar sehr gut in der dörflichen Welt der entlegenen Provinz auskennt, kaum an. Kann man als Stärke auslegen. Muss man aber nicht. Gerade dort nämlich, wo Kindheit nacherzählt wird, bleibt es seltsam flach. Psychologie ist etwas, was den Autor nicht weiter interessiert.

Auch sprachlich ist das eben nicht immer ganz sauber: „Vater stellte die drei Campingstühle in der Mitte des Raumes zu einem Halbkreis auf, der später das Wohnzimmer werden sollte.“ Nicht der Halbkreis, sondern der Raum sollte später das Wohnzimmer werden, ist anzunehmen. Das ist nur ein kleines Beispiel; davon finden sich aber einige in dem Roman, dessen Sprache mit „vorsichtig“ sehr vorsichtig beschrieben ist.

Natürlich gewöhnt man sich an den sparsamen Stil, und es entwickelt sich sogar eine Spannung zum Ende hin. Wer aber nach Erklärungen für zum Beispiel „Chemnitz“ sucht, wird nur das Übliche finden. René Hamann

Lukas Rietzschel: „Mit der Faust in die Welt schlagen“. Ullstein, Berlin 2018. 320 Seiten, 20 Euro

In Berlin ist Platz

Die Autorin Cristina García wurde 1958 geboren, ist eine aus Kuba stammende Amerikanerin und geht in ihrem jüngstem Roman „Here in Berlin“ auf 200 Seiten mehr oder weniger in den Zügen einer namenlosen Besucherin auf, die – wie García selbst mittleren Alters und eigentlich in Los Angeles zu Hause – nach einer Scheidung und dem Bruch mit der Mutter den Sommer in Berlin verbringt.

Mit der Gegenwart und dem globalen Hype um die deutsche Hauptstadt hat dieser kluge, vorerst nur auf Englisch erschienene Roman nichts am Hut. Eingefasst von fünf kürzeren Intermezzos, die die Rahmenhandlung skizzieren, entsteht vielmehr ein erfrischendes Panorama Berliner Nachkriegsgeschichte – erzählt aus der Perspektive seiner BewohnerInnen. In 35 kurzen, voneinander unabhängigen Monologen skizziert García jeweils den Verlauf eines Lebens, wobei das unerhörte Moment meist in der biografischen Verbindung mit Berlin liegt. Denn neben den obligaten Nazis, deren Helfern und Mitwissern sind es vor allem Emigranten aus Kuba und anderen ehemaligen Ostblockstaaten, die Garcías Berlin bevölkern.

Untereinander vernetzt sind die teils aufgefundenen, teils frei erfundenen Fälle mit ein paar Ausnahmen zunächst über die Besucherin, deren Fragen im Hintergrund der meist in der ersten Person gehaltenen Berichte durchschimmern. Ansonsten lässt sie ihr Personal zu Wort kommen; widerspricht nicht, ergänzt auch nicht. Heikel, denn im Zentrum stehen mit Hitler-Diktatur und Teilung Unwägbarkeiten, trotz denen oder gerade derentwegen es die Figuren aus aller Welt nach Berlin verschlagen oder, umgekehrt, von dort aus über den Globus verstreut hat.

Ihre Lebensläufe kreuzen auch die prominenterer Namen: Neben einer Eva-Braun-Doppelgängerin ist ein früher Rivale Max Schmelings aus Wehrmachtszeiten vertreten, selbst Oskar Matzerath hat als über 100-Jähriger Insasse einen Cameo-Auftritt. Ein Gros der Storys hält damit eine Gemengelage zwischen tatsächlicher Begebenheit und historischer Möglichkeit in der Schwebe.

García vermittelt so das Narrativ einer vom Krieg geprägten Stadt, um es zugleich immer wieder zu unterlaufen. Da ist die Blumenverkäuferin, die zum Studium aus Vietnam kommt und bei der Arbeit in der Munitionsfabrik vergewaltigt wird. Da sind die zwei sowjetischen Fernmelderinnen, die als lesbisches Paar nach der Kapitulation in der Stadt bleiben, um gemeinsam einen Sohn großzuziehen. Da ist der Charlottenburger, in dem die Suche nach der Mutter – einer kubanischen Studentin im Ostberlin der 60er – ein Faible für Antiquitäten aus Havanna weckt.

Was für die meisten ihrer Figuren auf die ein oder andere Art gilt, wird am Ende ihres Aufenthalts auch für die Besucherin wahr: „Sie gehörte hier nicht her, aber es war Platz für sie. Das war vielleicht genug.“ Genau dort aber, in der Outsiderperspektive, liegt die Stärke des Texts, der auch die Lebenslügen seiner ProtagonistInnen unkommentiert lässt. „Berlin lechzt danach, sich mit Blick auf die Zukunft zu definieren“, heißt es einmal zur Hälfte des Romans von einer Betrachterin der Gegenwartsarchitektur am Spreeufer, „und doch bleibt es die Geisel seiner Vergangenheit.“

Von genau dieser Ambivalenz lebt Garcías Werk. Und „Here in Berlin“ ist auch ein veritabler Berlin-Roman, der der Geschichte einer Metropole viele bunte Fäden Individualgeschichte einverleibt – und sie dadurch bereichert. Michael Watzka

Cristina García: „Here in Berlin“. Counterpoint Press, Berkeley 2018, 224 Seiten, 16,95 US-Dollar

Bukowskis Katzen

Klar, dass sich Charles Bukowski für die alten Kater begeistert, den alten Butch etwa: „den haben sie abgeklemmt, / die Mädels interessieren ihn / nicht. // 70 schon in Katzenjahren, / alt / abgeklemmt /, aber immer noch so groß und / fies wie eh und / je“.

Diese kleine hübsche Anthologie versammelt alle Texte Charles Bukow­skis über Katzen, sagt der Klappentext. Ob es tatsächlich alle sind, weiß man nicht. Ist aber auch egal. Die Texte, oft lakonisch in die Maschine gehackt und in kleinen Zeitschriften veröffentlicht, sind jedenfalls ziemlich gut. Oft auch lustig. Zum Beispiel der, in dem sich Bukowski über Interviewer empört, die ihn „nach Leben und Literatur“ ausfragen: „und ich besaufe mich und halte meinen schielenden angeschossenen überfahrenen entschwanzten Kater hoch und sage ,schaut, schaut euch das an‘. Aber sie verstehen nicht, sagen Dinge wie ,sie sind also beeinflusst von Céline …‘“

An anderer Stelle fragt Bukowski: „Habt ihr eine Katze? Oder mehrere? Wie die schlafen, Baby! […] Ich schaue eine an, die schläft oder döst, und ich werde ruhig. Schreiben ist auch meine Katze. Schreiben lässt mich aushalten. Es kühlt mich ab. Zumindest eine Weile.“ Dazu sind über die Seiten verstreut innige Fotos von Charles Bukowski und seinen Katzen abgedruckt. Dirk Knipphals

Charles Bukowski: „Katzen“. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 142 S., 9 Euro

Logik des Korrekten

Der Wiener Künstler Fahim Amir schrieb das Nachwort zum „Manifest für Gefährten“ der Feministin Donna Haraway und veröffentlichte nun selbst ein Manifest: „Schwein und Zeit. Tiere, Politik und Revolte“, in dem es darum geht, sie nicht nur als Opfer zu sehen. Dabei kriegen auch die „Ökos“ ihr Fett ab: „Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, als Konsument*innen adressiert zu werden, dass wir uns auch selbst primär als solche betrachten. Konsequenterweise wird selbst der Wunsch nach politischer Veränderung nach dem Modell des Konsums in den Blick genommen. Die praktische Kritik an sog. Auswüchsen des Kapitalismus äußert sich im Kauf kapitalistischer Produkte.“ Wobei die „Logik des korrekten Konsums, ob es nun um faire Bananen oder Bioprodukte geht, noch zynischer“ ist, denn dabei gilt, „dass ökonomisch Bessersituierte den Verdammten dieser Erde potenziell auch moralisch überlegen sind“. Das macht die „Ausgebeuteten und Marginalisierten“ mitschuldig an der „Ausbeutung und Marginalisierung aller anderen“. Denn die „planetarische Buchhalterlogik des Ökokapitalismus“ verlangt, „dass wir ständig alles auf ressourcenschonende und nachhaltige Effizienz hin evaluieren, um irgendwo irgendetwas zu sparen oder zu kaufen. Am Besten beides, zum Beispiel Tesla-Autos.“ Helmut Hoege

Fahim Amir: „Schwein und Zeit“. Nautilus, Hamburg 2018, 208 S., 16 Euro

Glückliche Abtreibungen

Es ist ein provokanter und für viele womöglich befremdlicher Titel, den dieses Buch trägt: „Happy Abortions“. Dass Abtreibungen glücklich machen könnten, erscheint undenkbar. Traurig, beschämt, schuldig: so haben sich Frauen nach dem Abbruch einer Schwangerschaft zu fühlen.

Doch Erica Millar beschreibt, dass diese Reaktionen keineswegs allen Frauen gemein, sondern kulturell geprägt sind: „Happy Abortions“ ist die Analyse des emotionalen Skripts, das von Frauen verlangt, sich für ihre Abtreibung zu rechtfertigen. Methodisch erinnert es an Mithu Sanyals „Vergewaltigung“, das offenlegte, wie frauenfeindlich der gesellschaftliche Diskurs über das Verbrechen ist. Millar, die Gender Studies in Adelaide lehrt, beschreibt nun Parlamentsdebatten, analysiert Medienberichterstattung und Kampagnen von AbtreibungsbefürworterInnen wie -gegnerInnen seit Ende der 1960er Jahre. Und nimmt eine offenbar noch immer radikale Perspektive ein: die der Frau. Beispielhaft anhand des Commonwealth, aber auf Westeuropa übertragbar und vor dem Hintergrund der aktuellen bundesdeutschen Debatten über den Paragrafen 219a interessant, beschreibt Millar, wie moralische und medizinisch-gesundheitliche Diskurse, Diskurse über die abtreibende Frau als Opfer einer Vergewaltigung oder Diskurse über zu junge, zu arme, zu einsame Frauen dazu führen, unser Bild von einer abtreibenden Frau zu prägen.

Doch die Frau, die die Entscheidung für eine Abtreibung trifft, um ein glückliches Leben jenseits der Mutterschaft zu führen – die ist noch immer nicht vorgesehen. Theoretisch, schreibt Millar, könnten Frauen bei ungewollter Schwangerschaft ein Rezept ihrer Hausärztin einholen, damit zur Apotheke gehen und das Mittel zu Hause einnehmen. Doch die zumeist von Männern verabschiedeten Gesetze bleiben schon wegen Pflichtberatung und Wartefrist bevormundend. Allein dies stelle Abtreibung als überstürzte Entscheidung dar, vor der eine Frau tunlichst zu schützen sei – und Frauen selbst als letztlich verantwortungslose Wesen: „Das autonome weibliche Subjekt, das unabhängig Entscheidungen treffen kann, ist rein fiktional.“ Millars Buch ist ein Plädoyer dafür, Abtreibung neu zu denken. Wenige Stellen sind dabei so provokant wie der Titel. Wer sich darauf einlässt, wird zu einer jüngeren Kulturgeschichte der Abtreibung eingeladen – und dazu, zumindest ungewohnte Gefühlswelten kennenzulernen, die neben Scham und Trauer ebenfalls mit dieser Entscheidung einhergehen können. ­Patricia Hecht

Erica Millar: „Happy Abortions“. Übersetzt von S. Singh. Wagenbach, Berlin 2018, 224 Seiten, 22 Euro

Texte aus dem Gefängnis

Ich werde die Welt nie wiedersehen. Briefe aus dem Gefängnis “ ist ein epischer Kassiber auf 170 Seiten. Traurig im Ton („nie mehr würde ich das Meer sehen“) und trotzig zugleich („Ich kann mühelos durch Wände gehen“). Seit zwei Jahren ist der 68-jährige Ahmet Altan im „Käfig“, wie er schreibt. Eine höhere Instanz bestätigte Anfang Oktober die lebenslängliche, erschwerte Haftstrafe. Der Vorwurf: Einen Tag vor dem Putschversuch im Juli 2016 habe er in einem Gespräch in einem lokalen TV-Sender versteckte Botschaften an die Putschisten untergebracht. So abstrus dies klingt, so seltsam ist der Umgang mit Altan hier und dort. In Europa wird sein aktuelles Buch in mehreren Sprachen aufgelegt – er gibt den über 170 Journalisten hinter türkischen Gittern ein Gesicht. Anders dagegen in der Türkei: Er ist, milde gesagt, umstritten. Seine liberale, mittlerweile verbotene Zeitung Taraf berichtete vor knapp einem Jahrzehnt über einen Putschversuch ranghoher Soldaten, mit fingierten Beweisen. Der AKP-Regierung dienten diese Vorwürfe zur Säuberung im mächtigen Militärapparat. Eine Hausdurchsuchung bei einer schwer an Krebs erkrankten Professorin kommentierte er damit, dass das „juristisch betrachtet“ doch richtig sei. An diese Chuzpe erinnert sich die türkische Öffentlichkeit. Aber ihn für seine damalige Haltung zu ächten, ist nur noch kurzsichtigen Oppositionellen vorbehalten. Für alle anderen gilt: An deiner heutigen Härte werden sie dich morgen messen. Ahmet Altan verdient jetzt diese Solidarität, denn es ist das andächtige Wort eines früher arroganten, jetzt alten Mannes in einer kalten Gefängniszelle. Deshalb: Kaufen Sie dieses Buch. Ebru Taşdemir

Ahmet Altan: „Ich werde die Welt nie wieder sehen“. Übers. von Ute Birgi-Knellessen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2018, 176 S., 12 Euro

Leid gegen Maschine

Das Erzählen von Geschichte(n) ist das Spezialgebiet von Yuval Noah Harari. Seit der Veröffentlichung seiner „Kurzen Geschichte der Menschheit“ (2013) ist der 42-jährige Israeli einer der wenigen wissenschaftlichen Sachbuchautoren mit Bestsellerstatus. Dies nicht zuletzt dank seiner Fähigkeit, die Geschichten unterschiedlicher Disziplinen verständlich und unterhaltsam zu bündeln. Seither beschäftigte sich Harari vor allem mit Zukunftsfragen. Wagte „Homo Deus“ (2017) noch einen spekulativen Blick in die Langzeit, so erkunden die „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ ihre Weichenstellungen im Jetzt. Es beginnt mit einem bereits skizzierten Problem: Der Mensch droht in der datengetriebenen Welt seine Souveränität zu verlieren. Dass Computerprogramme uns bald besser kennen als wir selbst, deute sich schon in den Diensten von Amazon und Google an. Was als Entscheidungshelfer im Alltag beginne, könnte sich zu einer allumfassenden intelligenten Kontrollinstanz ausweiten, in der für Demokratie und Liberalismus schlicht der Zweck fehlt. Genauso gerate ein Großteil der Weltbevölkerung womöglich ganz ins Abseits, da er in einer postindustriellen Zivilisation keine Funktion mehr erfüllt, wie einst Pferde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was also tun? Harari betrachtet Patentlösungen skeptisch. Und er sieht das Individuum in der Pflicht. Viele unserer Erzählungen, vom freien Willen bis zum authentischen Ich, seien wenig hilfreiche Fiktionen. An anderen Geschichten, wie an der von Wahlfreiheit und Selbstkontrolle, lohne es sich dagegen festzuhalten. Stark macht er sich für den Unterschied zwischen reiner, datenverarbeitender Kognition und einem zum Leiden fähigen Bewusstsein. „Erkenne dich selbst!“, lautet sein Credo. Das sei „kein spiritueller Luxus mehr, sondern eine politische und ökonomische Notwendigkeit“. Frederic Jage-Bowler

Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Übers. v. A. Wirthensohn. C. H. Beck, München 2018, 459 S., 24,95 Euro