Die Widersprüche sind nicht aufzuheben

RETRO Seit 1965 begleitet Marco Bellocchio das Geschehen in Italien mit seinen Filmen. Ihre Illusionslosigkeit war für die Linke nicht immer leicht zu ertragen. Das Arsenal widmet dem Regisseur eine Retrospektive

Bellocchio macht politisches Kino, geht aber mutiger mit Symbolisierungen um

VON BERT REBHANDL

Das Sterben der Komapatientin Eluana Englaro im Jahr 2009 in Udine war eine öffentliche Angelegenheit. Es gab Leute, die dafür waren, dass die künstliche Ernährung beendet wurde, was ihren baldigen Tod zur Folge hatte. Es gab Leute, die dies für Mord hielten. Und es gab Parteien wie die des damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi, die den Konflikt für ihre eigenen Zwecke nutzbar machen wollten. Der Fall Eluana Englaro war ein biopolitisches Lehrstück, und als solches hat der Regisseur Marco Bellocchio es nun auch verfilmt: „Bella addormentata“ („Schlafende Schönheit“) ist aber mehr als nur die Bebilderung eines gesellschaftspolitischen und moralischen Problems. Der Film ist zugleich ein Drama, in dem sich nahezu alle Gruppierungen des heutigen Italien wiederfinden können: die Politiker, die Gläubigen, die jungen Engagierten und auch die Betroffenen, also Menschen, die selbst jemand haben, der oder die ohne moderne Medizintechnik nicht mehr am Leben wäre.

Während Eluana Englaro selbst nur in Archivaufnahmen zu sehen ist, zeigt Bellocchio zwei andere Frauen, die „schlafen“: die Tochter einer bekannten Schauspielerin (Isabelle Huppert) und eine Drogensüchtige, die nicht im Koma liegt, sondern nur einen Heilschlaf nach tiefer Verzweiflung und Erschöpfung durchlebt, sorgsam bewacht von einem Arzt, der sie nicht aus dem Fenster springen lassen will. Dazu versammelt Bellocchio zahlreiche weitere Figuren, darunter einen Senator im Gewissenskonflikt und dessen Tochter. Das Ergebnis ist ein großer, panoramatischer Film mit manchen markanten Überhöhungen, von denen ein psychosokratisches Gespräch im Dampfbad des italienischen Parlaments zweifellos einen der stärksten Momente darstellt.

Blickt man von „Bella addormentata“ auf die Anfänge von Bellocchios Karriere zurück, dann entsteht der Eindruck einer erstaunlichen Kontinuität. Seit „I Pugni in Tasca“ (1965) begleitet der aus Piacenza in der Emilia-Romagna stammende Filmemacher das turbulente Geschehen in Italien mit seinen Beobachtungen. Er blieb dabei immer ein Linker, der sich aber niemals dazu hinreißen ließ, unlösbare Widersprüche in dogmatische Radikalität aufzuheben. Er überführte sie vielmehr in erzählerische Ambivalenz. Die Gelegenheit einer Retrospektive von Bellocchios Filmen im Arsenal im Oktober erweist sich als ausgesprochen günstig: Zu entdecken ist ein europäischer Filmkünstler, der die Verbindung zum politischen Kino der alten Schule (Rosi, Petri …) aufrechterhält, zugleich aber eben immer ein wenig mutiger mit Symbolisierungen umgeht. Das ist sicher seinem Interesse für Psychologie geschuldet, das sich aus den Debatten um die kritische Psychiatrie speiste, die in Italien eine so wichtige Bewegung ausbildete und zahlreiche Intellektuelle prägte. Noch das große Spätwerk „Vincere“, in dem Bellocchio die Geschichte des italienischen Faschismus in der „Entstellung“ des Blicks einer von Mussolini zurückgewiesenen Frau erzählte, verdankt sich wesentlich den Diskussionen, die damals darauf hinausliefen, die Praxis des bloßen Wegschließens und Ruhigstellens von Psychiatriepatienten abzuschaffen.

Was in der langen Liste der Titel nicht zum Vorschein kommt, sind die Schwierigkeiten, die Bellocchio immer wieder hatte, als die Berlusconisierung Italiens (die ja schon begann, bevor die entsprechende Partei formiert wurde) auch das nationale Kino auf Bikinilinie zu trimmen trachtete. Dass sein international bekanntester Film, „Teufel im Leib“ (1986, mit Maruschka Detmers), häufig als Erotikthriller vermarktet wird, ist gerade vor diesem Hintergrund ein Missverständnis, das sich möglicherweise noch in der Programmierung im Arsenal niederschlägt, wo „Diavolo in corpo“ zweimal im kleinen Saal laufen wird.

Ein häufig übersehenes populäres Element in Bellocchios Arbeit hat ihn vermutlich vor einem vorzeitigen Karriereende bewahrt, wie auch ein bemerkenswerter Realitätssinn. Als er 2003 mit „Buongiorno, notte“ seine Erzählung der zeithistorischen Kernereignisse um die Entführung Aldo Moros vorlegte, hatte Italien wieder einmal einen Schlüsselfilm par excellence – ein Kammerspiel, in dem die ganze Landschaft von Politik und Gesellschaft mit ungeheurer und gerade für die Linke nicht immer leicht zu ertragender Illusionslosigkeit enthalten war. Wenn man sich überlegt, dass in Deutschland „Der Baader-Meinhof-Komplex“ der komplementäre Film war, dann wird man noch deutlicher verstehen, dass eine Bellocchio-Retrospektive so angebracht wie erhellend ist.

■ Im Oktober zeigt das Arsenal die Filme Marco Bellocchios. Am 5. und 6. Oktober wird der Regisseur persönlich zu Gast sein