Das
Spiel
beginnt
Die Theaterpremieren im Norden: Wer macht was? Wo muss man hin? Ein unvollständiger, höchst subjektiver und kein bisschen fairer Überblick von Jens Fischer
Kennzahlen: 523 Beschäftigte, Jahresetat: 35,5 Millionen, vier Sparten
Saisoneröffnung: mit Edward Albees Drama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (14. September): Saufen gegen Ehefrust, US-Klassiker des Geschlechterkriegs
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: null, Seelenstriptease im Wohnzimmer ist längst Folklore
Politische Relevanz: wichtiger Hinweis auf das überschrittene Verfallsdatum der Institution Ehe
Originalität: null. Schon das xxxxxx. Zerfleischungsrevival nach dem Hollywood-Film
Glamour-/Wohlfühlfaktor: hoch, denn im Vergleich zum Stück ist die eigene Ehehölle ein Paradies
Ausstattung: ausgenüchterter Realismus
Typisch für die Saison: Da geht noch mehr. Macht Lust auf mehr Alkohol
Kennzahlen: 217 Beschäftigte, Jahresetat: 15,3 Millionen, vier Sparten
Saisoneröffnung mit Andrew Lloyd Webbers tief im Kitsch verankertem Werk „Sunset Boulevard“ (22. September)
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: dass die Philharmoniker über der von Schlichtheit, Eingängigkeit und Wiederholungen gekennzeichneten Partitur nicht einschlafen und die kurzen Opernmomente verpassen
Politische Relevanz: Diva scheitert an gnadenloser Filmindustrie – eine Gesellschaftssatire?
Originalität: nicht zu erwarten
Glamour-/Wohlfühlfaktor: nur für Musical-Fans
Ausstattung: bestimmt teuer
Typisch für das Theater: nein, aber ein Spaß fürs Ensemble, ein Spielplan-Muss zum Steigern der Auslastungszahlen und ein Zufluchtsort für Fans des antizeitgenössischen Theaters
Kennzahlen: 108 Beschäftigte, Jahresetat: 6,4 Millionen, zwei Sparten
Saisoneröffnung: Theodor Storms „Schimmelreiter“ (1. September)
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: Umformulierung der dialogarmen Novellen-Prosa in die rhythmisierte Form des lyrischen Blankverses
Politische Relevanz: Heimatliteratur als leidenschaftliches Plädoyer für den Deichschutz – dank Klimaschutz immer brisanter
Originalität? Vermieden – zuliebe des konzentriert temporeichen Geschichtenerzählens
Glamour-/Wohlfühlfaktor: gesucht und nicht gefunden
Ausstattung: angenehm reduziert
Typisch für das Theater: harmonisches Ensembletheater – macht Mut für die kommende Saison
Kennzahlen: 445 Beschäftigte, Jahresetat: 29 Millionen, fünf Sparten
Saisoneröffnung: George Orwells Dystopie „1984“ (2. September)
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: mit den Ideen der Meyerhold’schen Biomechanik auch auf der physischen Ebene etwas von Menschen in totalitären Überwachungsgesellschaften erzählen
Politische Relevanz: wie Lügen Realität konstruieren können und was sonst noch alles möglich sein könnte in unserer digitalisierten Welt
Originalität: statt nach Aktualität des Stoffs zu fragen, einen klaustrophobischen Zustand gleichgeschalteter Menschen zu inszenieren – als Projektionsfläche und Assoziationsraum für die Zuschauer
Wohlfühlfaktor: so absichts- wie kunstvoll vermieden
Ausstattung: artifizielle Installation
Typisch für das Theater: die beste Produktion seit Langem, ein Weckruf für die künstlerische Potenz des Hauses
Kennzahlen: 300 Beschäftigte, Jahresetat: 20,6 Millionen, vier Sparten
Saisoneröffnung: Schillers „Wilhelm Tell“ (1. September)
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: eine ausufernde Wortoper vital auf den Punkt bringen
Politische Relevanz: Schiller fragen, was ein Gemeinwesen konstituiert – und was es gefährdet
Originalität: stattdessen klassisch modern ausgenüchtertes Sprechtheater
Glamour-/Wohlfühlfaktor: nirgends
Ausstattung: unauffällig abgerissen, stört nicht
Typisch für das Theater: Ja: schöner Ernst in der Begegnung mit der Vorlage
Kennzahlen: 417 Beschäftigte, Jahresetat: 33,5 Millionen, vier Sparten
Saisoneröffnung: Gedanken zu Lessings „Nathan der Weise“ (7. September) vom Team um Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: Lesefrüchte, Kommentare, Erklärungen, persönliche Erzählungen performativ formen, ohne den Kontakt zur Vorlage zu verlieren
Politische Relevanz: mit dem Stück nach dem Wesen der Toleranz forschen – angesichts von Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und allgegenwärtigen Ausgrenzungsbestrebungen
Originalität: Lessings Idealismus wird in choreografische Praxis übersetzt, indem die Körpersprachen der kulturell sehr unterschiedlich geprägten Spieler miteinander zum Tanzen gebracht werden
Glamour-/Wohlfühlfaktor: angenehme Denkatmosphäre, als würden Zuschau- und Darstellungskünstler sich in einer Kneipe treffen
Ausstattung: Workshop-Utensilien
Typisch für das Theater: in dieser Offenheit eine prima Einladung zu den Diskursen der folgenden Premieren
Kennzahlen: 174 Beschäftigte, Jahresetat: 9,7 Millionen, zwei Sparten
Saisoneröffnung: „In Alice Welt“ (18. August), Lewis Carrolls literarische Reise ins Unbewusste
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: Besucher sollen selbst das Beunruhigende, Beängstigende und auch Befreiende im Wunderland erleben
Politische Relevanz: Gesetzmäßigkeiten der Allerweltswelt Adieu sagen – also hinterfragen können
Originalität: Stationentheater als immersives Experiment
Wohlfühlfaktor: wie entspannend, Verstand und Vernunft urlauben zu lassen – wie angenehm, sich der Traumlogik hinzugeben
Ausstattung: Aus dem Geist des Flohmarkts wird Realität surreal verrückt
Typisch für das Theater: jein: ein außergewöhnlich herausfordernder Lustmacher auf die neue Spielzeit
Kennzahlen: 514 Beschäftigte, Etat: 36 Millionen, vier Sparten
Saisoneröffnung: Lessings „Nathan der Weise“ (14. September), komödiantisch akzentuierte Aufführung zum niedersächsischen Abiturthema
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: mit der formvollendeten Blankvers-Fabel diskutieren, ob der heilige Humanismus der deutschen Denkernation nachhaltig weise oder kurzsichtig naiv ist
Politische Relevanz: Nathans Ringparabel trifft den immer wieder neu scheiternden interreligiösen Dialog
Originalität: nicht erwünscht im klassischen Klassikertheater
Wohlfühlfaktor: erzwungen – per finaler Wir-haben-uns-alle-lieb-Feier der Moslems, Christen und Juden
Ausstattung: betongrau und leinenweiß
Typisch für das Theater: eher die anbiedernde Ausnahme
Kennzahlen: 160 Beschäftigte, Jahresetat: acht Millionen, fünf Sparten
Saisonstart: Puccinis Opernklassiker „La Bohème“ (22. September) als garantierter Publikumshit
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: Irgendetwas Neues, Frisches muss einem nach über 200-jähriger Aufführungsgeschichte dazu noch einfallen
Politische Relevanz: Gezeigt werden soll ein „äußerst aktuelles Psychogramm des modernen Menschen: vom Suchen nach Sinn und Aufgabe“
Glamour-/Wohlfühlfaktor: unbedingt – dank zu Tränen rührender Arien
Typisch für das Theater: wahrscheinlich – denn der Intendant inszeniert selbst
Kennzahlen: 333 Beschäftigte, Jahresetat: 26 Millionen, fünf Sparten
Saisonstart: Jutta Ebnothers und Orkans Choreografie „Andy – Superstar!“ (14. September): Tanzparty in Andy Warhols Factory
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: Wie tanzt man Siebdruck und zu Velvet Underground?
Politische Relevanz: null, sieht einfach nur schön aus
Originalität: nein, nur der üblich klassisch basierte, sportive Modern-Dance-Mix
Glamourfaktor: gewaltig, auf der Bühne tanzen immerhin Mick Jagger, Lou Reed, David Bowie, Bob Dylan, Salvador Dalí …
Ausstattung: konsequenterweise popartig
Typisch für das Theater: auch
Kennzahlen: 280 Beschäftigte, Jahresetat: 23,6 Millionen, zwei Sparten
Saisoneröffnung: von Paul Abraham komponierten Operetten-Revue „Ball Savoy“ (1. September): jazzig fideler Jux, in memoriam Babylon Berlin
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: Das Philharmonische Orchester muss swingen
Politische Relevanz: Vergnügungssucht vernebelt Blick auf erblühenden Nationalsozialismus
Originalität: Lübecker Erstaufführung, ja, aber nur traditionelles Wellness-Theater für Aug’und Ohr
Glamourfaktor: so mittel – dank Bühnenglamour
Ausstattung: alles so elegant steril hier
Typisch für das Theater: Da geht deutlich mehr
Kennzahlen: 380 Beschäftigte, Jahresetat: 21 Millionen, fünf Sparten
Saisoneröffnung: Bühnenfassung des Films „Shakespeare in Love“ (8. September) – elisabethanisches Theater für Arme, sprich: Musical-Fans
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: wird dem Jokus zuliebe nicht gesucht
Politische Relevanz: ein paar Witze über den Kulturbetrieb
Originalität: null. Die x-te x-beliebige Produktion dieses Stoffs
Glamour-/Wohlfühlfaktor: hoch, weil Klamauk im Glitzergewand
Ausstattung: üppig, kunterbunt
Typisch für das Theater: leider ja
Kennzahlen: 930 Beschäftigte, Jahresetat: 74 Millionen, fünf Sparten
Saisoneröffnung: „Der schwarze Obelisk“ (31. August), Erich Maria Remarques warnende Erinnerung an die 1920er-Jahre
Inhaltliche/ästhetische Herausforderung: moralisch zeigefingernde Literatur von gestern zu vitalem Theater für heute zu machen
Politische Relevanz: die Weimarer Nazi-Dämmerung sozialpsychologisch als Folie genutzt, um neue rechtsnationale Bewegungen zu fokussieren
Originalität: popmoderne, deutsche Geschichte und aktuelle Verweise, zu einem kabarettös schwebenden Drama geformt
Glamour-/Wohlfühlfaktor: Lebensgier – gebrochen vom immer mutigeren Faschismus
Ausstattung: lässig modern
Typisch für das Theater: beispielhaft für das politisch klar positionierte, pointierende Haus