Solidarität mit Polizeiopfer

TUNESIEN Eine junge Frau ist wegen eines Vergehens gegen die Sittlichkeit angeklagt, nachdem zwei Polizisten sie vergewaltigt haben. Die Zivilgesellschaft ist in Aufruhr

„Die alten Geister der Unterdrückung sind wieder da“

EINE DEMONSTRANTIN IN TUNIS

AUS TUNIS EDITH KRESTA
UND RENATE FISSELER-SKANDRANI

„In meinem Land vergewaltigt mich die Polizei, und die Justiz klagt mich an“ steht auf einem Plakat, das eine junge Frau vor dem Justizpalast in der tunesischen Hauptstadt Tunis hochhält. „Wir sind empört, wie das Opfer zum Täter gemacht wird“, sagt eine Demonstrantin. „Wir sind zutiefst enttäuscht und traurig“, sagt eine andere Frau und fügt hinzu: „Die alten Geister der Unterdrückung sind wieder da.“ Mit Hunderten Frauen und Männern demonstrieren sie gegen die Anklage einer jungen Frau, die von Polizisten vergewaltigt wurde und sich nun wegen Verstoßes gegen die Sittlichkeit vor Gericht verantworten soll.

Nach Ende des zweistündigen Ermittlungsverfahrens am Dienstag äußerte sich einer der Rechtsanwälte der 27-jährigen beschuldigten Frau, Mohammed Ben Meftah, optimistisch. Er hält die Einstellung des Verfahrens für möglich. Die Anwältin Monia Bousselmi stellte fest: „Ich habe den Richter auf seine historische Verantwortung hingewiesen. Die Welt, die Medien und die Jugend Tunesiens erwarten seine Entscheidung, die von ausschlaggebender Bedeutung für den Aufbau eines Rechtsstaates ist.“ Die Entscheidung über eine Einstellung des Verfahrens soll in den nächsten Tagen fallen. Es hat sich ein Unterstützerkomitee von 100 AnwältInnen gegründet.

Die Verhandlung gegen die junge Studentin führte zu einer Welle der Empörung, aber auch zu Unterstützung und Solidarität. Anklagepunkt: unsittliches Verhalten und Erregen öffentlichen Ärgernisses. Der Vorwurf: Die junge Frau habe im Auto eine „unmoralische Position“ eingenommen. Drei Zivilpolizisten hatten die Studentin, die mit ihrem Verlobten am Abend des 3. September im Auto saß, angesprochen und als „unsittlich“ beschimpft und bedroht. Sie verlangten von dem Paar Schweigegeld und vergewaltigen die Frau schließlich dreimal.

Doch die Studentin hatte den Mut, sich zu wehren, und zeigte die Polizisten wegen Vergewaltigung an. Dies wird in einem zweiten Prozess verhandelt. Die junge Frau ging an die Öffentlichkeit. Im Fernsehen berichtete sie über das Verbrechen und den brutalen Übergriff, ohne jedoch selbst erkennbar zu sein.

„Ich bin der jungen Frau sehr dankbar. Es ist das erste Mal, dass eine Frau öffentlich über Vergewaltigung durch Sicherheitskräfte spricht. Durch meine Arbeit in einer Frauenorganisation kenne ich sehr viele solcher Fälle“, sagt Radhia Belhaj Zekri, Vorsitzende der Frauenorganisation Afturd. „Ich bewundere den Mut der Frau. Und dies zu einer Zeit, wo mit den Islamisten an der Macht die Rechte der Frauen bedroht sind“, sagt der Filmemacher Ibrahim Letaief auf der Demonstration.

In der Regierung hatte wochenlang einzig Frauenministerin Sihem Badi, Mitglied des säkularen CPR (Congrès pour la République), Stellung bezogen. „Wenn wir diesen Akt der Gewalt nicht verurteilen, dann brauchen wir eine zweite Revolution in den Köpfen“, sagte sie. Der Sprecher des Innenministeriums, Khaled Tarrouche, verwies hingegen darauf, dass die Anklageerhebung gegen das Opfer Sache der unabhängigen Justiz sei.

Eine Unterschriftensammlung im Parlament, von weiblichen Oppositionsabgeordneten initiiert, wurde auch von zwei Frauen der islamischen Ennadha unterzeichnet. Doch alle politisch verantwortlichen Männer schwiegen lange. Erst am Dienstag hat sich Premierminister Hamadi Dschebali von der islamischen Ennadha bei einem Besuch in Belgien von dem Verbrechen distanziert. „Es gibt keine Rechtfertigung für diesen barbarischen Akt.“ Doch er fügt hinzu: Möglicherweise läge auch ein Sittlichkeitsvergehen der Frau vor.

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