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Alle Möglichkeiten der Musik

Wundertüte Musikfest: Zum Wochenende gab es Schlagwerk von Stockhausen, einen Stummfilm mit Orchester und John Cage

Von Katharina Granzin

Ach, wie wäre es im Kino doch bequem, kommt ein ungerufener Gedanke zwischendurch, da hat man eine Lehne für den Kopf. Der kann schwer werden, wenn ein Film drei Stunden dauert. Und im stylishen Gestühl des Konzerthauses hat man eh nur so viel Platz zum Sitzen, wie eben nötig ist. Andererseits gibt es heutzutage wohl kein einziges Kino, in welches das ganze Rundfunk-Sinfonieorchester gepasst hätte.

Im Rahmen des Musikfests ist es ein Novum: die Aufführung eines Stummfilms mit Live-Orchesterbegleitung, hier durch das RSO unter Frank Strobel. Der Antikriegsfilm „J’accuse“ des französischen Regisseurs Abel Gance stammt aus dem Jahr 1919. Vom Original existiert nur noch eine einzige Rolle (von ursprünglich fünfzehn); der Film wurde vor ein paar Jahren aus verschiedenen Kopien rekons­truiert. Der Komponist Philippe Schoeller schrieb eine neue Musik dazu.

Abel Gance legt seine Geschichte breiter an, als es heutigen Gewohnheiten entspricht. Das Leben in einem Dorf wird gezeigt, eine Dreiecksgeschichte ausgerollt; ein Dichter liebt eine Frau, die mit einem anderen verheiratet ist. Dann kommt der Krieg. Die Männer treffen sich an der Front, und die Feindseligkeit zwischen den Rivalen wird zu Kameradschaft. Die Handlung kulminiert im dritten Teil des Films: In einer großangelegten Vision des wahnsinnig gewordenen Jean erstehen die Kriegstoten auf, um die Lebenden heimzusuchen. Die Massenszenen, die dafür gedreht wurden, sind auf unheimliche Art eindrucksvoll, weil Gance als Statisten echte Soldaten einsetzte, die gleich am Tag nach den Dreharbeiten zurück an die Front mussten – nach Verdun.

Natürlich, das muss so sein, passiert dasselbe wie immer im Kino: Die Bilder verschlingen die Musik. Schoellers Soundtrack liegt meist wie eine durchsichtige Wahrnehmungsfolie über dem Film. Die Musik illustriert nicht in naiver Lautmalerei das Geschehen, sondern schafft eine fiebrig verschleierte Atmosphäre und setzt große Soundeffekte sparsam ein. Frank Strobel und sein Orchester sind alte Filmmusik-Hasen (wobei das RSO rein optisch ein sehr junges Orchester ist) und machen ihre Sache glänzend – und ganz unauffällig, weil natürlich die meiste Zeit aller Augen an der Leinwand hängen. Im letzten Drittel lassen die Filmbilder mit ihrer großartig gesteigerten Expressivität die Möglichkeiten von Schoellers Musik mitunter auch hinter sich.

Die Möglichkeiten von Musik auszuloten könnte als Motto über dem folgenden Musikfest-Abend stehen. Einer, der darin wohl seine Lebensaufgabe sah, war Karlheinz Stockhausen, dem das Festival einen Schwerpunkt widmet. Das zweite Konzert der Reihe fand am Samstag im großen Sendesaal des RBB statt, einem nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch in puncto Innenarchitektur kongenialen Ort für Stockhausens mittlerweile fast sechzig Jahre alte Avantgarde-Experimente.

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard und der Schlagzeuger Dirk Rothbrust sind die Helden des Abends, souverän unterstützt von Benjamin Kobler am Klavier und Marco Stroppa als Klangregisseur. Rothbrust erntet Bravos mit dem Schlagzeug-Solo Zyklus, in dem das um etliche Sonderinstrumente zu einer großen Installation erweiterte Schlagwerk kreisförmig um den Spieler angeordnet ist. Er spielt auswendig, was irre ist, aber wahrscheinlich auch kaum anders ginge, denn diese Musik ist unter anderem eine hochvirtuose Bewegungs-Choreographie.

Der Höhepunkt des Abends aber ist das Stück Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug. Stockhausen hatte dafür intensiv mit den Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung experimentiert, unter anderem mit der Entdeckung, dass die Geschwindigkeit, mit der ein Rhythmus abgespielt wird, entscheidend sein kann für Tonhöhe und Klangfarbe.

Das Frappierende beim Zuhören aber ist vor allem die Interaktion zwischen Instrumentalisten und Elektronik. Da gibt es gegenseitige Imitationen, Frage-Antwort-Sequenzen, energische Interventionen – dem Ganzen ist ein narrativer, fast metaphysischer Charakter eigen, der stark mit dem abstrakten Gestus der anderen Stücke kontrastiert.

Allerdings klingen danach ein wenig die Ohren, denn der musikalische Impetus findet auch in höheren Phonzahlen Ausdruck. Glücklich daher, wer über ein Ticket zum Chill-out beim anschließenden Late-Night-Konzert des Rundfunkchors in der St.-Matthäus-Kirche verfügt. Eine Stunde lang schweben Klänge von Strawinsky, Feldman und Cage in mehrfachem Pianissimo im Raum.

Am Schluss scheint es vor lauter klingenden Obertönen ganz warm geworden zu sein. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt ist.

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