Meist trifft er die schwierigen Töne

OPERNPREMIRE Kilometer von Stoff wurden verbraucht, aber niemand hat den Sängern gesagt, wer sie sind. Daniel Barenboim dirigiert im Schillertheater Wagners „Siegfried“ und scheitert an der Regie von Guy Cassiers

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Nach der zweiten Pause lichteten sich die Reihen. Etliche Premierengäste, die viel bezahlt hatten für diesen Abend im Schillertheater mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle, hatten genug. Keine Hoffnung mehr, dass es besser werde im dritten Akt des „Siegfried“ von Richard Wagner. Als alles vorbei war, kurz vor Mitternacht, war das Elend selbst in Barenboims Gesicht zu lesen. Mit kurzem Kopfnicken bedankte er sich für den müden Applaus seiner enttäuschten Fans, die ihn sonst umjubeln, ganz besonders dann, wenn er Wagner gespielt hat mit diesem Orchester, in dessen wundervollem Klang diese Musik über sich selbst hinauswachsen kann. Heute jedoch waren nur ihre Schwächen zu hören, ihr gestelztes Pathos, ihre triviale Illustration schematischer Gefühle, aneinandergereiht ohne innere Notwendigkeit.

Was war geschehen? Vor zwei Jahren hatte es Barenboim mit dem „Rheingold“ und der „Walküre“ noch geschafft, Guy Cassiers, dem Regisseur seines für Mailand und Berlin produzierten „Ring des Nibelungen“, zu entkommen. Zu hören war Barenboims Wagner, eine Musik voller Leidenschaft und innerer Spannung, überraschend selbst da, wo sie sich banaler Mittel bedient. Wotans Tragödie wurde fühlbar, weil sie hörbar war weit über das hinaus, was Wagner in sein Textbuch schrieb. Auf Cassiers’ Bühne dagegen war das genaue Gegenteil dieses berührenden Dramas menschlichen, nicht mythischen Scheiterns zu sehen. Wabernde Videoprojektionen ersetzen bei ihm die fällige Auseinandersetzung mit dem Stoff. Sinn- und gedankenlos versuchen sie lediglich, Situationen stimmungsvoll zu beleuchten und Gefühle zu illustrieren, statt sie zu verstehen und in die Gegenwart zu übersetzen.

So auch bei Siegfried. Übereinandergeblendete Videos von Wäldern, Sümpfen und Meeren erzeugen eine Art Schaufenster düsterer Landschaften, manche sehen hübsch aus, aber sie sind nie mehr als bloße Hintergrunddekoration für Figuren, die schwer beladen mit wilden Fantasiekostümen davor herumtrampeln. Kilometer von Stoff wurden dafür verbraucht, aber niemand hat den Sängern gesagt, was und wer sie sind.

Siegfried sieht wie ein Rocker aus, und Lance Ryan versucht sich auch ein wenig in dieser Pose, aber weil er nun mal keiner ist, der unschuldige Wälsungensohn, gelingt es ihm nicht so recht. Ryan flüchtet sich in das, was er am besten kann: Er singt mit seinem eiskalten Tenor so laut es nur geht. Meistens trifft er die schwierigen Töne, manchmal aber auch nicht, und dann näselt er haarscharf am Orchester vorbei. Denn auch Barenboim ist gescheitert an dieser Art der Regie, die diesen ohnehin an Dramatik ärmsten Teil des Rings nur in schier endlose Längen der Langeweile ausdehnt. Wenn das Theater so sehr fehlt wie in Cassiers Nicht-Regie, dann verliert auch die Musik ihre theatralische Funktion.

Noch immer klingt das Orchester gepflegt, aber es trottet routiniert vor sich hin, ohne auf die Bühne zu achten. Dort klingt Juha Uusitalo als Wanderer-Wotan recht ordentlich, und Peter Bronder als Nibelung Mime schafft es sogar aus eigener Kraft, ein bisschen tragische Komik in das formlose Einerlei von Cassiers zu bringen. Aber selbst der Drache Fafner darf dann doch nur ein farbiges Tuch sein, das fünf Tänzer in Wallung bringen. Was ihre Turnübungen besagen sollen, weiß wohl nur Sidi Larbi Cherkaoui, der für die Choreografie verantwortlich zeichnet.

Im dritten Akt werden sie nicht mehr gebraucht. Für das Finale hat Cassiers eine Berg aus Stoff vor seine nunmehr rot glühend beleuchtete Dekorationsfläche gebaut. Darauf liegt Iréne Theorin als Brünhilde und lässt sich wach singen von Lance Ryan. Das löst bei ihr leider ein flatterndes Dauertremolo aus, das selbst in die leisen Passagen ihres Liebesduetts eindringt. Irgendwie schaffen es die beiden trotzdem, zusammenzukommen und mit dem Orchester Schritt zu halten, das zum Ende mahnt. Aber den letzten, höchsten Ton verpatzt Iréne Theorin dann doch.

Die „Götterdämmerung“ steht erst im März auf dem Spielplan, aber sie hat schon jetzt begonnen im Schillertheater.