Angst vor dem Albtraum

Der Hurrikan „Katrina“ zog gestern über New Orleans. Er ist einer der gefährlichsten Wirbelstürme, die Amerika je trafen

VON MICHAEL STRECK

„Katrina“ war The Big One. Der Sturm, den New Orleans seit Jahrzehnten gefürchtet hat. Zweimal verschonten tropische Wirbelstürme „The Big Easy“, eines der beliebtesten Touristenziele in den USA, in den letzten zwölf Monaten. Im Herbst 2004 jagte Hurrikan „Ivan“ nur knapp vorbei. Und noch vor wenigen Wochen im Juli raste „Dennis“ 100 Kilometer östlich gegen die Küste. Die Hoffnung, erneut verschont zu werden, wurde im letzten Augenblick nicht ganz enttäuscht. Das Auge des Sturms machte einen kleinen Bogen um die Stadt. Dennoch wird ein Desaster befürchtet, dessen Ausmaß mit dem des Wirbelsturms „Betsy“ vergleichbar sein dürfte, der die Stadt 1965 traf, und den Rekordschaden von 26 Milliarden Dollar noch übertreffen könnte, die Hurrikan „Andrew“ im Jahre 1992 hinterließ.

Am Montagnachmittag glich New Orleans einer Geisterstadt. Straßen standen unter Wasser. Die Stromversorgung war teilweise zusammengebrochen. Hunderttausende Einwohner waren geflohen. Keine freiwillige Entscheidung, sondern angeordnet von Bürgermeister Ray Nagin, der den Sturm „die größte Herausforderung der Geschichte“ für die Stadt nannte. Die Menschen suchten Unterschlupf landeinwärts bei Bekannten oder in Hotels. Rund zehntausend Flüchtende, die Älteren und Ärmeren, die kein eigenes Auto haben, retteten sich in den „Superdome“, das Footballstadion der Stadt. Doch auch hier brach das Dach, Wasser sickerte durch, sodass sich die Menschen auf die Zuschauertribünen flüchteten.

Die Prognosen über die möglichen Auswirkungen des Sturms zeichnen ein düsteres Bild, weniger wegen der Windgeschwindigkeiten von über 200 Kilometern pro Stunde, sondern aufgrund der extrem unvorteilhaften geografischen Lage der Stadt. Sie liegt am Rande des Mississippideltas, eingeklemmt zwischen dem Fluss und dem großen Binnensee Pontchartrain, bis zu drei Meter unter dem Meeresspiegel, eine Art Suppenschüssel, aus der Wasser, einmal eingeströmt, nur schwer wieder abfließen kann. In der Umgebung hat sie in den vergangenen Jahren riesige Feuchtgebiete verloren.

Die Sümpfe und Flussarme des Mississippi dienten früher als Pufferzone und können notfalls Wassermassen, die auf das Land treffen, aufnehmen. Doch der Fluss wurde begradigt, sein Lauf verändert, den Erfordernissen der modernen Hafenwirtschaft und Schifffahrt angepasst. Deiche und Dämme sind zwar vorhanden, doch selbst wenn sie den hohen Sturmwellen standhalten, können sie immer noch überflutet werden. Dann fallen selbst die Pumpen aus, die auch in normalen Zeiten im Dauereinsatz sind, um die Stadt trocken zu halten.

Für diesen Fall drohen New Orleans enorme Umweltschäden. Die Stadt ist wichtiger Ölumschlaghafen und Standort der petrochemischen Industrie am Golf von Mexiko, dem dutzende Bohrinseln vorgelagert sind. Sie könnte wochenlang von einer schlammigen Brühe aus Chemikalien, Abwässern, Müll und Öl überzogen werden. Prognosen gehen überdies von starken städtebaulichen Schäden aus. Bis zu 60 Prozent der Gebäude könnten so weit zerstört werden, dass sie unbewohnbar sind. „Die Stadt könnte nach dem Sturm nicht mehr wiederzuerkennen sein“, warnte Max Mayfield, Direktor des Nationalen Hurrikanzentrums. Viele Einwohner würde damit ihr Zuhause verlieren.

Wie mit dem Heer von Obdachlosen umgegangen werden soll, ist derzeit völlig unklar. Landesweit stehen Katastrophenschutzeinheiten und die Nationalgarde bereit, um der Stadt zu Hilfe zu eilen. Doch die Rettungskräfte könnten mit den riesigen Wassermassen schnell überfordert sein. Ohnehin gibt es bislang in den USA kaum Erfahrungen mit Stürmen dieses Ausmaßes, die dicht besiedelte Gebiete heimsuchen. Die meisten Hurrikane der vergangenen Jahre trafen eher ländliche und dünner besiedelte Regionen in den Südstaaten der USA. Abgesehen von „Andrew“, der im Vergleich zu New Orleans das reiche und mit besserer städtischer Infrastruktur ausgestattete Miami heimsuchte, hatten Metropolen stets Glück. So auch New Orleans seit 1969. Damals wurde die Stadt letztmals von einem Wirbelsturm der Kategorie drei heimgesucht und stand zwei Meter unter Wasser. 250 Menschen kamen ums Leben. Experten sind sich jedoch einig: „Katrinas“ Zerstörungskraft ist gewaltiger. Und so warteten alle auf den Tag danach.