„Wir waren Nerds“

Vivien Goldman ist Chronistin der britischen Punk- und Reggaeszene. Ihre eigenen, wunderbaren Songs spielt sie heute Abend erstmals live in Deutschland beim Berliner Pop-Kultur-Festival

Vivien Goldman hat große Lust, auf der Bühne zu stehen Foto: ­Pop-Kultur

Von Stephanie Grimm

Vivien Goldman scheint kaum glauben zu können, dass sie nach Jahrzehnten im Musikbetrieb ein „richtiges Konzert“ geben wird. Es ist ein kleines Wunder, dass Goldman, die als Journalistin und Autorin den britischen Punk ebenso wie die Reggae­szene (und einiges mehr) ab 1976 begleitete und so zur inoffi­ziel­len Chronistin diverser Subkulturen wurde, beim Berliner Pop-Kultur-Festival nun das erste Mal mit ihren eigenen Songs in Erscheinung tritt.

Es ist knapp 40 Jahre her, dass sie diese teils solo, teils mit der New-Wave-Band the Flying Lizards aufgenommen hat. Im Popkanon war ihr Werk zwischen Dub und Postpunk zunächst in Vergessenheit geraten, erst 2016 wurde die Compilation „Resolutionary. Songs 1979–1982“ (bei Staubgold) veröffentlicht.

Seit fast zwei Jahrzehnten lehrt sie als Professorin an der New York University. Vor zwei Wochen beim Skype-Interview ist es in der Wahlheimat der in London aufgewachsenen 63-Jährigen gerade Frühstückszeit, doch sie ist hellwach – und ziemlich euphorisch: „Leute wollen mich auf der Bühne sehen. Und ich habe große Lust.“ Zugleich scheint sie fast erstaunt, dass sie sich nun konkret überlegen muss, wie der Abend abläuft. „Erst gestern fiel mir auf, dass ich auch Songs spielen könnte, die ich für andere komponiert habe, für Luscious Jackson etwa, die 90er Hip­Hop-Punk-Frauencombo aus dem Umfeld der Beastie Boys.“ Auch neues Material wird sie spielen: Songs, die mit Martin Glover alias Youth (Bassist von Killing Joke) entstanden sind und mit ihrem musikalischen Wegbegleiter Andy Caine. „Ihm habe ich zu verdanken, dass ich den Draht zum Musikmachen nicht verloren habe, auch wenn ich zwischenzeitlich weggedriftet war“, erklärt Goldman.

Goldman wirkt quirlig und reflektiert zugleich. Sie holt weit aus, um zu erklären, wie sie da gelandet ist, wo sie heute steht. „Als ich angefangen habe, gab es noch keine lange Poptradition. Man schaute auf gerade mal 20 Jahre zurück. Alles war flexibel, durchlässig. Die Punk-Devise hieß: No more heroes. Jeder sollte machen, worauf er Lust hat.“

Vivien Goldman hatte auf vieles Lust. Sie machte Promotion für das Label Island Records, ebenso schrieb sie Texte über Punk – ohne dass sie sich deswegen Scheuklappen aufsetzte. Genauso leidenschaftlich beschäftigte sie sich mit Jazz und Afro­futurismus. Nahm einen Song mit Robert Wyatt auf, begleitete Fela Kuti auf Tour. Später schrieb sie Bücher, unter anderem über Bob Marley und Kid Creole. Mit Letzterem entstand 1999 das unterhaltsame Musical „Cherchez la Femme“. Und, last but not least, mopste sie Studiozeit von ihren Kumpels Public Image, wenn diese gerade Pause machten. So entstanden einige der Songs auf „Resolutionary“.

Nur auf die Bühne zog es sie damals nicht: „Ich habe schon immer geschrieben und gesungen. Ich dachte nur nicht, dass ich Letzteres öffentlich machen muss.“ Sie habe einfach zu viel zu tun gehabt. „Und, ehrlich gesagt, habe ich lieber im Studio gewerkelt – auch mit den Flying Lizards. Wir waren eine Band von Nerds.“

„Die Punk-Devise hieß: No more heroes. Jeder sollte machen, worauf er Lust hat“, sagt Vivien Goldman

Doch jetzt freut sie sich, aus ihren stillen Kämmerchen herauszukommen. Bücher zu schreiben (ihr aktuelles Projekt heißt „Revenge of the She-Punks“ und soll 2019 erscheinen), erfordere strenge Disziplin. „Für Monate verabschiedet man sich von der Welt. Das Beste am Musikmachen ist, dass ich es das mit anderen Menschen teile. Ich freu mich jedenfalls sehr auf die beiden Musiker, die ich für die Show gewonnen habe.“

Goldman liegt viel an der Sichtbarwerdung von Frauen in der Popwelt. Sie sagt: „Man diskutiert das seit Jahrzehnten, aber ich habe den Eindruck, dass sich gerade tatsächlich Grundsätzliches verändert. Ich bin verhalten optimistisch.“

Und so ist Goldmans Erkenntnis, dass die Zeit reif dafür sei, auf der Bühne mit ihrem Publikum zu kommunizieren, auch ein Metakommentar zur Gegenwart, jenseits persönlicher Befindlichkeiten: „Letztendlich ist zwischenmenschlicher Kontakt unser aller Treibstoff. Das Gefühl, in einem Raum mit anderen zu sein, deren Motivationen und Bedürfnisse zu teilen, lässt sich durch nichts ersetzen.“

Vivien Goldman tritt heute beim Pop-Kultur-Festival auf: 23 Uhr, Kulturbrauerei Berlin