Wie es ist, nachdem der Notarzt die Sirene ausgeschaltet hat. Und wie, bevor ein Eichhörnchen das andere anmeckert
: Stille

ROGER REPPLINGER

Mir war nach Stille. Gibt es nicht die „Kirche der Stille“ in der Helenenstraße in Altona? Die Öffnungszeiten – Montag bis Freitag 12 bis 18 Uhr – passten nicht, dann wurde ich skeptisch, ob das überhaupt geht, in einer Kirche, mit der Stille. Und dann wurde mir klar, dass ich Stille habe.

Montags um 7.25 Uhr im „Double Coffee“ in der Rosenstraße, wenn das Mädchen mit dem Nasenpiercing das Sieb, im dem das alte Espressopulver ist, ausklopft. Sie braucht zwei Schläge, zwischen dem ersten und dem zweiten Schlag – Stille. Wenn der Notarzt samstags gegen 7 Uhr über die Barmbeker Straße rast, und kurz nach der Lorenzengasse die Sirene ausschaltet, und du hörst nur die Reifen auf dem nassen Asphalt. Dann ist es still.

Wenn das dunkelrote Eichhörnchen, das etwas größer und kräftiger ist als die hellroten, auf dem Baum im Garten vorm Haus in einer Astgabel sitzt und pennt. Den Schwanz von hinten über die Augen gelegt. Leicht schwankend hält es das Gleichgewicht: still. Bis eines der hellroten Eichhörnchen das dunkelrote entdeckt und von unten zur Astgabel hoch meckert, so dass das dunkelrote Eichhörnchen aufwacht und sie hintereinander her über die Wiese flitzen und die Bäume rauf und runter.

Still ist es, wenn die Gänse auf der Wiese zwischen Schwanenwik und Alster stehen, zum Drachen am Himmel hoch gucken, und vergessen zu schnattern. Still auch, wenn mein Nachbar Pause macht zwischen dem neunten und zehnten Versuch, einen Song von Hank Williams auf der Gitarre zu spielen. Die letzten beiden Schritte, bevor Rafael van der Vaart den Ball tritt, der auf dem Elfmeterpunkt liegt. Wenn der letzte Böller eines Feuerwerks, hier in Hamburg kriegst du ja mindestens ein Feuerwerk pro Woche, geknallt hat: Stille.

Wenn im Lesesaal der Stabi, in dem Mobiltelefone verboten sind, mein Handy klingelt, und der Typ drei Reihen vor mir links am Fenster mir, der ich auf dem Weg zum Klo bin, wo Telefonieren keinen stört, hinterher ruft: „Ma’ ma das Ding aus, eh!“ Der Typ in meinem Rücken sorgt für Stille, in der Pause zwischen dem Rotz, den er alle 40 Sekunden hoch zieht.

Still wird es, wenn sich im ICE von Zürich nach Hamburg zwischen Hannover und Harburg das Handy einer älteren Dame mit „Ein Stern, der Deinen Namen trägt“ meldet. Und die anderen sich angucken und grinsen, während die ältere Dame in ihrer Handtasche kramt und DJ Ötzi immer weiter „Ein Stern, der Deinen Namen trägt“ singt, bis sie das Handy findet, es „Ein St-“ macht, und sie dann in die Muschel flüstert. Samstags, kurz nach elf, beim ersten Schluck Galão wird’s still in mir und auch die Farbe des Rasens des SC Sternschanze ist – still.

Ich war mal an einem Ort, da war es sehr still. Will ich nie mehr hin. War fast so still wie bei denen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, die bleiben.

Stille ist der Moment zwischen dem letzten Akkord von „Beat on the Brat“ und Dee Dee Ramone, der „one, chew, free, far“ brüllt. Glaub nicht, dass in der „Kirche der Stille“ Stille ist. Man hört dort nur nicht viel.