Sisyphos und der Schneeball

VIDEOKUNST Zwischen wuchernder Marktwirtschaft und alten autoritären Strukturen: Die Stadtgalerie in Kiel zeigt Arbeiten russischer Videokünstler, die sich mit Russlands Wandlungsprozessen beschäftigen

Ein Kind weinen zu hören, das ist kein angenehmes Erlebnis. Erst recht, wenn es nicht aufhören will; wenn das Weinen sich wandelt in ein unterdrücktes Schluchzen. So ist es kein Wunder, dass nicht allzu viele Besucher länger in der Videobox verharren, in der in der Kieler Stadtgalerie die 45-minütige Arbeit „Ewigkeit/Provmyza“ von Sergey Provorov und Galina Myznika zu sehen ist: Ein Kind, ein Mädchen, schleppt einen Stein durch eine rostrote Steinhalde. Klettert einen Berg hinauf, klettert hinab, wirft den Stein weg, hebt ihn wieder auf und schluchzt und schluchzt und schluchzt.

Das Motiv des Sisyphos begegnet dem Besucher noch an anderer Stelle: Vier Männer, Pudel oder Pelzmütze auf dem Kopf, rollen Schnee zu einem riesigen Schneeball, der bald ein paar Meter bergab kullert: eine sehr poetische, auch sehr rätselhafte Erzählung von Yury Vassiliev mit dem Titel „Der letzte nächste Winter“.

Die Ausstellung „Lost in Transformation – Russische Videokunst“ in der Kieler Stadtgalerie erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch, eine generelle Übersicht über die aktuelle Videoszene Russlands zu bieten. Vielmehr wurden Arbeiten auserwählt, die sich mit den Wandlungsprozessen des Landes beschäftigen, seit eine wildwuchernde Markwirtschaft sich Bahn bricht, zugleich aber althergebrachte autoritäre Strukturen ungebrochen wirksam sind.

Dementsprechend enthalten die elf gezeigten Positionen weder klare Anklagen, noch eindeutige Antworten, was nun zu tun ist. Gemeinsam ist ihnen der Moment der unendlichen und womöglich vergeblichen Anstrengung, etwas zu ändern, und dem Wunsch, daran zu wachsen: wie in „Versuch“ von Dmitry Bulnygin – Kinder üben Klimmzüge an einem Reck. Stolz wie Bolle, wenn sie es schaffen, doch mit zusammengebissenen Zähnen dabei.

Dass schon das Erkennen, dessen, was ist oder sein könnte, nicht so einfach ist, zeigt Petr Zhukov mit seiner Arbeit „Russian Online Tube“, die auf diverse Monitoren verstreut ist: seine erwählten Schnappschüsse werden malerisch aufgelöst und erinnern an die Formsprache von Daniel Richter.

Schaut man sich die Motive genauer an, offenbart sich, dass manche eine zweite, ausdrücklich politische Ebene haben, wie die hingestreckte Figur am Rande einer Straße: Russlands Elite schwört auf schnelle, schwere Autos und verursacht besonders in den Großstädten immer wieder folgenreiche Unfälle, die bisher von den Behörden entweder vertuscht oder nur sehr gering bestraft werden. Eine Antwort derer, die das nicht hinnehmen wollen: Auf Youtube gibt es mittlerweile einen ganzen Schwung von Videos, die Verkehrsunfälle auf Russlands Straßen zeigen und so demonstrieren: „Mögt ihr wegschauen, wir schauen hin.“

Dass der ständige Wechsel von einem in einen anderen Zustand auch etwas Angenehmes haben kann, beweist Sergey Bratkov mit „Balaklavskischer Mut“: Halbwüchsige Jungs treffen sich an einem Hafenbecken zum Baden. Nehmen Anlauf und – Köpfer, Rolle, Arschbombe! Das scheint ihnen Spaß zu machen, auch wenn sie manchmal etwas verfroren am Rande stehen, bevor es wieder hinein ins Wasser geht. Dazu läuft ein hübscher Popsong als Endlosschleife, während die Jungs erneut durchstarten.

Und unser Kind? Es ist noch immer unterwegs, allein, seinen Stein zu schleppen, ihn irgendwo in die Gegend zu pfeffern und dann wieder aufzuheben, damit es weiter gehen kann, bis wohin auch immer. Sisyphos dürfen wir uns erst als Erwachsenen als einen glücklichen Menschen vorstellen. FRANK KEIL

Bis 11. November, Stadtgalerie Kiel