Eingeschränkte Lufthoheit

Mit der frisch eingerichteten Adlerschlucht gönnt man den Greifvögelnim Berliner Zoo etwas mehr Platz. Aber da wäre doch noch viel Luft nach oben

Schmutzgeier Motte hätte sich bestimmt Besseres vorstellen können, als Mitte Mai zur Eröffnung der Adlerschlucht in den Händen des Zoodirektors Andreas Knieriem Shootingstar zu spielen Foto: Volker Hohlfeld/imago

Von Helmut Höge

Adler, die Greifvögel überhaupt, dazu zählen auch die Geier, leben quasi in der Luft. Sie nutzen die Aufwinde, um sich hochzuschrauben, und kreisen dann – stundenlang, ein Leben lang. Diesen Luftraum kann man ihnen in keinem Zoo bieten.

Aber der Westberliner Zoo hat sich nun eine „Adlerschlucht“ gegönnt – für 3,65 Millionen Euro. Mitte Mai wurde sie eröffnet. Adler gab es vorher auch schon im Zoo, ebenso im Ostberliner Tierpark. Aber wenn man in den zwei Berliner Zoos die Adler (und auch die Eulen) in ihren vielleicht 1.000 Kubikmeter großen Volieren trübsinnig auf Stangen sitzen sieht, weiß man, was ihnen fehlt: ihr wesentliches Milieu, die Luft – oft in großer Einsamkeit.

Und doch sind wir so beschränkt, dass wir uns mindestens zwei, am besten ein Weibchen und ein Männchen, in jedem Käfig wünschen. Im Ostberliner Tierpark haben sie einen „Geierfelsen“ – eine Flugvoliere, in der die Geier etwa sechs Flügelschläge brauchen, um von einem Ende zum anderen zu gelangen, sie ist schon fast das Maximum, was die Aktiengesellschaft Berliner Zoo/Tierpark ihren Geiern an Berliner Luft bieten könnte.

Im viel kleineren Zoo haben drei Andenkondore ebenfalls eine große Flugvoliere. Trotzdem müssen sie die meiste Zeit auf einem Baumstumpf sitzen. Hier fand man jetzt für die „Adlerschlucht“, in der auch viele Geier untergebracht sind, eine andere Lösung, eigentlich sind es zwei: eine billige, indem man aus einer Voliere drei machte – durch Entfernung der Trennwände. Und eine teure, indem zwei neue Flugvolieren errichtet wurden, in die das Publikum gehen kann. Man kann sich den Luftraum, der darin den Insassen sozusagen zur freien Verfügung steht, leichter vorstellen.

Die Serie Rund 3,8 Millionen BerlinerInnen atmen jeden Tag Hauptstadtluft. Sie kann ganz wunderbar sein, sie kann einem manchmal dünn werden – und mitunter stinkt sie auch einfach bloß gewaltig. In unserer luftig-leichten Sommerserie beschäftigen wir uns im wörtlichen und im übertragenen Sinne mit der Berliner Luft: Wir begleiten Sportler zum simulierten Höhentraining im Kreuzberger Bergmannkiez, gehen an einem von Berlins dreckigsten Straßenabschnitten flanieren und schauen in einer Kaulsdorfer Schnapsfabrik tief in die Likörflasche – denn die „Berliner Luft“ ist inzwischen auch Szenegetränk.

Im fünften Teil besucht unser Autor die neue Adlerschlucht im Berliner Zoo. Neue Folgen: immer dienstags. (taz)

Die Schneeeulen, die gerne auf dem Boden sitzen (wenn dort Schnee liegen würde, wären sie gut getarnt), gucken noch etwas irritiert: Erst seit drei Monaten befindet sich zwischen ihnen und uns kein Gitter mehr. Zur Eröffnung ließ der Zoo- und Tierpark-Direktor Andreas Knieriem sich a là Grzimek/Dathe lächelnd mit einem kleinen weißen Geier im Arm fotografieren. Er sagte, dass neben den ganzen Um- und Neubauten auch das Gelände den natürlichen Lebensräumen der Vögel angepasst worden sei.

Es sieht auch alles so aus, als sei gewissermaßen die frische Luft des Kapitals durch diesen Zoobereich geblasen worden. Fraglich ist, ob man so etwas auch für die Volierenanlage der Greifvögel im Tierpark plant. Oder soll sie vielleicht so bleiben, wie sie ist – als Mahnmal für die stolzen Raubvögel und ihr bescheidenes Leben im Sozialismus? Dass die im Westberliner Zoo lebenden Vögel auf vegetarische Ernährung umgestellt werden sollen, wie es der Ostberliner Regisseur Frank Castorf in seinem Buch „Am liebsten hätten sie veganes Theater“ insinuiert, hat sich allerdings als Gerücht erwiesen.

Zurück aber zu den Baureformen der zoologischen Gärten, um ihren Greifvögeln eine gewisse Lufthoheit wiederzuverschaffen: Inzwischen sind wir über die Klimaerwärmung, die CO2-Kreisläufe und die zunehmenden Wetterkatastrophen zu einer eigenständigen Luftforschung gekommen, mit Ergebnissen, die sich gewaschen haben. In diesem Zusammenhang stellt sich bei den gefangen gehaltenen und ausgestellten Greifvögeln nicht mehr nur die Frage der Luftquantität, sondern auch die der Luftqualität.

So kann es aussehen, wenn Andenkondore in ihrem wesentlichen Milieu fliegen Foto: Holger Hollemann/dpa/picture alliance

Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz veröffentlicht dazu regelmäßig Hiobsbotschaften, wonach die Berliner Luft laut den Messungen ihrer „Belastung“ nicht gut ist (Feinstaub wird weniger, Stickstoffdioxid dafür mehr). Vor allem in der Gegend Kurfürstendamm-Gedächtniskirche, also beim Zoo, ist die Luft sehr viel schlechter als in Friedrichsfelde, wo der Tierpark liegt. Und auch akustisch viel anstrengender. Es wäre deswegen tierethisch eigentlich geboten, den kleinen Zoo zu räumen und dafür das riesige Gelände des Tierparks auszubauen – unter anderem mit großen begehbaren Flugvolieren. Das würde nicht zuletzt auch ökonomisch sinnvoll sein, denn die Zooimmobilie in City West wäre allemal ein „echtes Filetstück“, das die Makler doch gern auf ihrem Teller hätten.

Kurzum: Die Greifvögel brauchen mehr und bessere Luft, deswegen müssen die Flugvolieren größer und eigentlich nicht mehr mitten in der Stadt gebaut werden. Dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller fiel zur Frage „Wie dick ist die Berliner Luft?“ im Zusammenhang mit dem Dieselgipfel auf Bundesebene auch nur eine politische Maßnahme ein: dass man dort gemeinsam den Druck erhöhen werde. Mit den Adlern in der Westschlucht und den Geiern am Ostfelsen zusammen? Damit haben diese aber noch keinen Kubikmeter Luft gewonnen. Eigentlich bräuchte es sowieso Kubikkilometer pro Kopf für sie.

Man sehe sich nur die traurige Harpyie im Tierpark an, ein großer südamerikanischer Greifvogel. Benannt wurde die Art nach den Mischwesen der griechischen Götterwelt, die in Gestalt einer geflügelten Frau den Sturmwind verkörpern. Dem blinden Seher Phineus schissen sie auf seinen Teller. Angeblich soll er irgendwas Windkritisches geäußert haben, aber das entschuldigt diesen Schabernack natürlich nicht. Im West-Zoo gab es auch mal eine Harpyie, die unglücklich aussah: „Sie war krank und lebte mit einem Kolkraben zusammen“, wie der Berliner Autor Martin Kluger in seinem tausendseitigen Zooroman „Abwesende Tiere“ schreibt.