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Atmende Rouleaus in Brooklyn

REISENOTIZEN James Agee, in den vierziger Jahren der bedeutendste Filmkritiker der USA, hat mit „Brooklyn ist. Südöstlich der Insel“ einen ungewöhnlichen Klassiker der New-York-Literatur verfasst

Als der US-amerikanische Autor und Journalist James Agee 1938 im Auftrag des Fortune-Magazins Brooklyn durchwanderte, um ein Stadtporträt zu schreiben, waren es nicht Sehenswürdigkeiten oder kulturelle Hotspots, die ihn interessierten. In „Brooklyn ist. Südöstlich der Insel. Reisenotizen“ grenzt er Brooklyn zunächst gegen das in New York alles überschattende Manhattan ab, pocht auf die Provinzialität und Eigenschaftslosigkeit der Millionenstadt Brooklyn, um sich dann wortgewaltig und akribisch den architektonischen und soziokulturellen Besonderheiten jedes einzelnen Stadtteils von Brooklyn zu nähern. Dabei blickt er auch hinter die gepflegten Fassaden.

Der Text entwickelt einen Sog, der einen mitreißt, bis man am Ende nicht zufällig im Zoo wieder ausgespuckt wird. Agee listet die Stadtteile als Beispiele auf, die Absätze mit einem „oder“ beginnend und mit einem Doppelpunkt endend, es gibt kein Anfang und kein Ende, alles fließt ineinander. Seine Wahrnehmung hat geradezu filmische Qualität: Präzise und unmittelbar wie eine Kamera scannt er „verbaute Ausblicke“, „zu klein geratene Prunkbauten“, „spöttische Simse geschändeter Häuser“, „atmende Rouleaus“, Schüler mit „toxischen Büchern“ oder bis zur „Friedfertigkeit erschöpfte Männer“, um zielgenau ins Politische zu driften, den allgegenwärtigen Rassismus und Antisemitismus anprangernd.

Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Harvard-Absolvent Agee ärgert sich über einen jungen Brooklyner Journalisten „aus etwas zu gutem Hause und mit etwas zu frischem Harvard-Abschluss“ und dessen Snobismus, um ihm später mit dessen Bekenntnis „erst gesellschaftlich Fuß zu fassen und dann dem nazistischen Bund beizutreten“ den Todesstoß zu versetzen.

Etwas pauschal gerät die Darstellung Wohlhabender, die durchweg intrigant und blasiert sind. Dies tut Agee allerdings stets humorvoll, jemand hat einen „Oberschichtskosenamen aus dem Bereich des Nautischen“. Leuten aus dem Mittelstand und der Arbeiterschaft begegnet er auf Augenhöhe. Seine große Empathiefähigkeit und das Bewusstsein für eigene Privilegien hatte Agee bereits zwei Jahre zuvor bewiesen, als er zusammen mit dem Fotografen Walker Evans, ebenfalls im Auftrag von „Fortune“, nach Alabama gereist war, um dort das Leben weißer Farmerfamilien zu beschreiben. Der Artikel wurde nicht veröffentlicht, wuchs sich zu einem Buch von 400 Seiten aus. „Let us now praise famous men“ heißt es und gilt heute als eines der wichtigsten Dokumente über die Zeit der Großen Depression in den USA.

In den vierziger Jahren avancierte Agee zum bedeutendsten Filmkritiker Amerikas, veröffentlichte seine eigenwilligen, weltumspannenden und extrem witzigen Rezensionen in den Magazinen Time und The Nation. Er schrieb die Drehbücher von John Hustons „The African Queen“ und Charles Laughtons „The Night of the Hunter“. Der 1957, zwei Jahre nach seinem Tod erschienene, autobiografisch gefärbte Roman „A Death in the Family“ wurde posthum mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Vielleicht war der unorthodoxe Ansatz seiner Reisenotizen auch ein Grund dafür, dass Fortune auch diesen Artikel nicht veröffentlichte und er erst 1968 erschien. 2005 kam das Porträt mit einem Vorwort des in Brooklyn ansässigen Schriftstellers Jonathan Lethem erneut heraus und liegt nun erstmalig in deutscher Übersetzung vor. SYLVIA PRAHL

James Agee: „Brooklyn ist. Südöstlich der Insel. Reisenotizen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stupf und Sven Koch. Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2012, 64 Seiten, 12,95 Euro

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