Hell aufblitzende Unruhe

GEGENWARTSDEUTUNG Mitten hinein in den Diskursdschungel der Jetztzeit: Teju Coles „Open City“ schillert zwischen geschickt instrumentiertem Großstadtroman und Thesenumwälzungsmaschine

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Wir stehen nicht allein in der Welt. Wir sind umzingelt von einem System aus Verweisen, Bedeutungssystemen, historischen Frontlinien und ideologischen Machtkämpfen. Wie es sich anfühlen muss (und wie es sich sprachlich manifestiert), wenn dieses Umzingeltsein zur einzig gültigen bedeutungstiftenden Komponente wird, lässt sich in Teju Coles Roman „Open City“ nachlesen. Es ist ein Buch, um das es im Vorfeld eine Menge Geraune gab. Ein Geniestreich sei es, so wurde erzählt; endlich ein Autor, der sich in vollem Bewusstsein auf Augenhöhe mit den Diskurslinien der Gegenwart befinde. Genau so ist es, aber es spricht nicht für den Roman, der in Wahrheit auch gar kein Roman ist, sondern eine Thesenumwälzmaschine.

Teju Cole, 1975 in Nigeria geboren, kam als Jugendlicher in die USA und arbeitet als Kunsthistoriker, Fotograf und Schriftsteller. Einige biografische Details teilt er mit seiner Erzählfigur Julius; das Alter etwa und die nigerianische Abstammung. Julius allerdings ist von Beruf Psychiater, und er ist getrieben von einer inneren Unruhe, die ihn zu einem Großstadtflaneur werden lässt. Unablässig durchstreift er die Straßen von Manhattan, verliert sich, verirrt sich. Vor allem aber dringt er in die historische Vertikale ein: Jedes Ding ist ein geschichtlich besetztes Zeichen, auf das sich wiederum Zeichen, Bedeutungen, Assoziationen aufhäufen. Julius, Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters und Absolvent einer nigerianischen Militärakademie, ist ganz und gar eingesponnen in die Verwirrungen seiner Herkunft, in das Identitätsrätsel seines Daseins.

„Open City“ beginnt verheißungsvoll als ein geschickt instrumentierter Großstadtroman ohne Zentrum, ohne Halt; geschrieben in einer variantenreichen Sprache. Die Nervosität, die Beunruhigungsquellen der Gegenwart vermischen sich in Julius’ auf höchste Empfindlichkeit eingestelltem Sensorium mit der bis in die Jetztzeit hineinragenden Diskriminierungshistorie. Ein Diskursdschungel. Da sitzt Julius drin und findet nicht mehr hinaus. Das ist sein Schicksal. Und das Schicksal des Romans leider auch. Denn spätestens nach 170 Seiten, mit Julius’ Rückkehr von einer Reise in ein düsteres, von den Nachwirkungen des belgischen Kolonialismus gezeichnetes Brüssel, hat man alles verstanden. So intellektuell überfrachtet ist diese Erzählfigur, so umfassend informiert über Musik, Kunst, Literatur, so bildungsbeflissen, aufgeklärt und missionarisch aufklärerisch, dass sie einem irgendwann beinahe leidtun könnte. Freud, Deleuze, Barthes; Gustav Mahler und Jazzmusik; J. M. Coetzees „Elizabeth Costello“ und Tahar Ben Jellouns Orientalismus – alles da, alles angelesen und verinnerlicht und aufgelistet und abgearbeitet. Dem Buch tut das alles andere als gut. Denn dieses Verfahren der Gegenwartsdeutung hat nicht nur etwas enorm Altkluges, es ist auch schlicht berechenbar und langweilig.

Zwei Beispiele. Auf einer Ausstellung mit Fotografien von Martin Munkácsi sieht Julius ein Bild von Hitler und Goebbels in einem Spalier von Soldaten. Sein schockartiger Zustand wird (wie so oft das Gesehene im Spiegel des Entgegengesetzten gezeigt wird) gespiegelt in dem jungen Paar, das neben ihm steht, „sie waren chassidische Juden. Ich hatte keine angemessene Ahnung davon, was es für sie bedeutete, in dieser Galerie zu sein.“ Warum auch, will man fragen. Zweites Beispiel: Als sein alter Professor Julius von den Bettwanzen erzählt, mit denen er sich herumschlagen muss (ein ernstes Problem), läuft Julius’ Reflexionsapparat sofort auf Hochtouren: „Natürlich gab es schwerwiegendere Leiden, die den Staat viel mehr kosteten. Aids blieb ein gravierendes Problem, vor allem für die Armen und für Menschen in den ärmeren Ländern. Nicht nur die Bedingungen der transnationalen Konflikte hatten sich verändert, im Gesundheitswesen zeichnete sich ein ähnlicher Paradigmenwechsel ab; die Feinde waren nicht mehr so leicht auszumachen.“

Ein Diskursopfer hat Teju Cole da geschaffen, einerseits. Umso irritierender sind andererseits die immer wieder hell aufblitzenden Passagen, in denen Julius sich mit der Unmittelbarkeit des erlebten Augenblicks konfrontiert sieht. Da gibt es keine Chance, auf Vorformuliertes auszuweichen. Da geht es dann um das Leben selbst.

Teju Cole: „Open City“. Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Richter-Nilsson. Suhrkamp, Berlin 2012, 336 Seiten, 22,95 Euro