Die Wiederauferstehung des zersetzten Jürgen Dehmers

SEXUELLE GEWALT Einer der Hauptbetroffenen des Päderastenidylls im Odenwald erhält Scholl-Preis

VON CHRISTIAN FÜLLER

Hinterher hieß es, er sei auch eitel gewesen. Und habe die Errungenschaften der Feministinnen nicht gewürdigt. Das stimmt irgendwie. Denn Jürgen Dehmers machte in der Aula der Pädagogischen Hochschule Thurgau („Reformpädagogik nach der Odenwaldschule“) große Pausen. Er hob die Wasserflasche provozierend langsam zum Mund – und redete irgendwann auch weiter. Er berief sich auf keine Vorläufer oder Zeugen, er leitete seinen Vortrag aus eigener Erfahrung ab. Als ehemaliger Schüler der Odenwaldschule, als Lehrer, als derjenige, ohne den wir heute über Missbrauch anders sprechen würden.

Aber das war nicht die Botschaft. Die lautete anders: Ich habe es überlebt, es hat mich nicht gebrochen, ich bin bereit, darüber Auskunft zu geben. Und: Wenn wir etwas ändern wollen, dann sollten wir anfangen. Jetzt. „Gewissenlos Betrachtende sind schlimmer als gewissenlos Handelnde“, sagte Dehmers.

Sein Auftritt war rundum beeindruckend. Weil seine Powerpoint-Präsentation kein Roman auf Karten war und weil er die Kunst der Pause beherrscht. Und obwohl er viel weniger redete, sagte er mehr als alle anderen Referenten. Er sprach von den vier Irrtümern über sexualisierte Gewalt: „Es passiert nicht hier! Es passiert nicht jetzt! Es sind Einzeltäter! Es ist nicht so schlimm!“

Dehmers entwarf ein wegweisendes Präventionsprogramm für Schulen: Es müsse, erstens, Kurse für SchülerInnen geben darüber, was Macht bedeutet und wie man mit Gewalt umgeht, sie also verhindert. Denn „in pädagogischen Kontexten setzen wir uns mit der Gewalt irgendwo auseinander, aber nicht mit der Gewalt, die in unseren Einrichtungen stattfindet“. Und zweitens sollten Schüler etwas über Sexualität lernen: „Bei der sie die Gelegenheit haben zu lernen, sich selbst und ihrem Gegenüber achtsam zu begegnen.“ Dehmers will nicht Aufklärung über „sexualisierte Gewalt“. Er baut darauf, es trennen, Macht und Missbrauch. Warum? „Sonst folgen wir Logik und Strategie der TäterInnen und verknüpfen das, was wir trennen wollen.“

Aber so klug das alles war, es pochte die ganze Zeit etwas ganz anders durch die Schläfen der Zuschauer in der Aula der PH Thurgau. „Wo nimmt er nur diese Kraft her?“ Dehmers nämlich gehört zu den Opfern der Odenwaldschule, die unter Gerold Becker am meisten zu leiden hatten. Becker missbrauchte ihn wohl hunderte Male. Irgendwann fand Dehmers die Kraft, Nein! zu sagen. Danach kämpfte er 15 Jahre, um das Verbrechen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, und man kann sagen, dass sie es ihm nicht leicht gemacht hat. Dehmers war ein zersetzter und zerstörter Junge, damals als er 13 oder 14 war, Alkoholiker, Opfer Beckers. Er hat sich selbst aus diesem Loch herausgewühlt, und er beschreibt es viel besser als jeder andere in „Wie laut soll ich denn noch schreien“.

Für sein Buch erhält er den Geschwister-Scholl-Preis des Bayerischen Buchhandels. „Dehmers’ Buch beschreibt die Vorgänge an der Odenwaldschule als ein kriminelles weit verzweigtes System mit Tätern und Mitwissern, von Macht und Gewalt. Er deckt die Mechanismen auf von Vertuschung, Verschweigen, Abhängigkeit, Bedrohung, die einen fortgesetzten Missbrauch erst möglich machen“, heißt es in der Begründung der Jury. Die Leistung seines Buchs liege auch darin, „dass es hinweist auf das Versagen von Zivilgesellschaft und Rechtsstaat, von Bürgern, Pädagogen bis hin zu Presse und Justiz, die darin scheitern, die Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen“. (Dehmers schreibt unter Pseudonym, den Preis nimmt er im November persönlich entgegen.)