: Möglicherweise Unendlichkeit
Michelangelo Pistoletti ist der Grand Seigneur der Arte Povera. Im Italienischen Kulturinstitut wird sein Weg und Werk dokumentiert
Von Brigitte Werneburg
Die Künstler*in als Heiler*in soll der neueste Ausdruck schöpferischer Kraft sein. So jedenfalls wurde es von der Manifesta 12 berichtet, die derzeit in Palermo Kunst als Heilung (FAZ) praktiziert. Doch die Idee ist nicht neu. Michelangelo Pistoletto geht schon seit über fünf Jahrzehnten in dieser Rolle auf und will mit seinem Werk den sozialen und ökologischen Wandel vorantreiben.
Die Heil(ung)slehre des Grand Seigneur der Arte Povera und des Wegbereiters der Konzeptkunst, der am 23. Juni seinen 85. Geburtstag feierte, heißt Terzo Paradiso. Bei einem Besuch der Italienischen Botschaft beziehungsweise des Italienischen Kulturinstituts lässt sich mit ihr Bekanntschaft machen, denn noch bis Ende September ist dort die Ausstellung „Michelangelo Pistoletto und Cittadelarte. Spiegelungen und Widerspiegelungen“ zu sehen.
In der Eingangshalle der Botschaft trifft man zunächst auf eine alte Bekannte, die 1967 entstandene Lumpenvenus (Venere degli stracci). Pistoletto stellt seine Replik der Thorvald’schen Venus mit dem Rücken zu den Betrachter*innen auf, wobei es scheint, als ob sie sich anschickt, einen Berg von Altkleidern, der vor ihr liegt, auszusortieren. Die konsumkritische Pop-Art-Installation hat der Künstler übrigens erstmals 1978 in Berlin gezeigt. Da war er Stipendiat des Künstlerprogramms des Daad und stellte in der gleichnamigen Galerie aus.
Zukunft für das Raumschiff Erde
Zu entdecken ist das auf einer der dokumentarischen Fotografien, mit denen in der Ausstellung im Italienischen Kulturinstitut Michelangelo Pistolettos Karriere chronologisch nachgezeichnet wird. Bevor man sich aber in die Ausstellung begibt, sollte man die temporäre Installation seines Dritten Paradieses (Terzo Paradiso) im Innenhof der Botschaft aufsuchen.
Denn hier hat der Künstler mit dem gleichen Kopfsteinpflaster, mit dem im wiedervereinigten Berlin der einstige Verlauf der Mauer nachgezeichnet wird, ein auf drei Schleifen erweitertes Unendlichkeitszeichen gelegt. Das erweiterte Symbol soll das Fusionieren zwischen erstem und zweitem Paradies anzeigen, wobei das erste Paradies dasjenige ist, in dem der Mensch ganz in die Natur integriert war, das zweite aber das vom Menschen selbst durch Wissenschaft und Technik geschaffene künstliche Paradies ist. Im dritten Paradies soll die Wiedergeburt der Menschheit geschehen, auf dass ihr Überleben gesichert ist. Pistoletto betrachtet das Terzo Paradiso als einen neuen Mythos, der alle dazu inspirieren will, persönliche Verantwortung für das Raumschiff Erde zu übernehmen.
Dafür baute Michelangelo Pistoletto 1998 in seiner Geburtsstadt Biella eine ehemalige Wollspinnerei zur Cittadellarte um, in der er neben den Studios für ein Artists in Residence Programm auch seine Università delle Idee ansiedelte. Sie wird im obersten Geschoss des Italienischen Kulturinstituts als eine künstlerische Plattform vorgestellt, die dazu dient, die Austauschbeziehungen zwischen Kunst und Öffentlichkeit in Theorie und Praxis zu untersuchen. Die Präsentation der Aktivitäten des Künstlers in Biella führt dann allerdings zu einem extrem kuriosen Mix von Kunstausstellung und Tourismuswerbung.
Auf der einen Seite werden in einer Vielzahl von Archivbildern Pistolettos ästhetische Strategien, Aktionen und Performances in Erinnerung gerufen und eine Auswahl seiner berühmten Spiegelbilder (Quadri speccianti) und Skulpturen gezeigt, während auf der anderen Seite die zweifellos sehr verdienstvollen Aktivitäten seiner Cittadellarte und die Bedeutung Biellas als ein weltweit maßgebliches Zentrum der Wollindustrie in den grauslichen Displays der Tourismusindustrie mit scheußlich bunten Fotografien und belehrenden Videos gefeiert werden.
Trotzdem sie sind ein echter Tipp. Das Piemont ist eine noch recht unberührte Alpenregion und Biella, mit seinem reichen religiösen und kulturellen Erbe und den zeitgenössischen künstlerischen Aktionen, eine Entdeckung wert.
Bis 29. September, Italienisches Kulturinstitut, Hildebrandstr.2 Mo.-Fr. 10–18 Uhr, Sa. 11–18 Uhr (nicht in der Zeit vom 7. 7. bis 18. 8.)
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