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Jenseits der Zelle

Die Institution des Gefängnisses ist nicht sehr erfolgreich. Dennoch findet eine Diskussion über Alternativen nur am Rande statt. Woran liegt das?

Hinter Stacheldraht: Blick von außen auf die Justizvollzugsanstalt Hannover Foto: Anna-Kristina Bauer

Von Johannes Feest

Strafanstalten waren einmal eine hochmoderne Erfindung. In Bremen ist das etwa 400 Jahre her. Der Senat hatte von Versuchen mit Arbeitshäusern in den Niederlanden gehört. Eine Delegation wurde nach Amsterdam geschickt und kam begeistert zurück. Auf diese Weise kam es zur Gründung des ersten deutschen Zuchthauses in Bremen im Jahre 1609. Die Hansestädte Lübeck (1613), Hamburg (1622) und Danzig (1629) griffen diese Idee auf.

Zunächst hatte dies nicht unmittelbar mit der Bekämpfung von Kriminalität zu tun. Es ging in erster Linie darum, „arbeitsunwillige“ Menschen (Bettler, Landstreicher, Prostituierte etc.) „aus dem Verkehr zu ziehen“ und zu „bessern“. Harte Arbeit und Disziplin galten dafür als das geeignete Mittel. Zugleich konnten die Ergebnisse der Zwangsarbeit auf dem Markt mit Gewinn verkauft werden.

Diese Erfindung hatte Auswirkungen auch im Strafrecht: Straftäter wurden nicht mehr nur bis zu ihrer Hinrichtung oder Verbannung in Kerkern (Stadttürmen und anderen Verliesen) festgehalten; die Freiheitsstrafe begann die Todesstrafe als Hauptstrafe abzulösen. Später wurden Straftäter in aufgelassenen Klöstern oder Festungen untergebracht. Diese Tradition der Zellengefängnisse lebt bis heute in architektonisch modernen Formen fort. Soziologisch sind die heutigen Strafanstalten jedoch weiterhin „totale Institutionen“ (Erving Goffman).

Das Einsperren von Menschen zum Zwecke ihrer Bestrafung konnte als humanisierender Fortschritt gegenüber der Todesstrafe angesehen werden. Nach Abschaffung der Todesstrafe ist dieser „Fortschritt“ jedoch zunehmend überprüfungsbedürftig. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass mit dieser Art von Institution im 21. Jahrhundert kein Staat mehr zu machen ist. Sie stellt kein Instrument einer rationalen Kriminalpolitik dar, wie wir sie heute fordern müssen. Sie wird, kurz gesagt, ihren Aufgaben nicht gerecht, stellt eine überholte Sozialtechnologie dar.

Es fängt damit an, dass die an allen deutschen Universitäten gelehrten Strafzwecke durch die Strafanstalten nicht oder nur mangelhaft erreicht werden. Der „Behandlungsvollzug“ ist, trotz der Beschäftigung zahlreicher Psychologen und Sozialpädagogen, ein irreführendes Etikett geblieben. In erster Linie hat der Aufenthalt im Strafvollzug eine profunde desozialisierende Wirkung. Die vom Bundesverfassungsgericht als Grundrecht anerkannte „Resozialisierung“ kann in totalen Institutionen grundsätzlich nicht erreicht werden.

Aber auch mit dem Drohpotenzial der Strafanstalt zur Abschreckung potenzieller Straftäter ist es nicht weit her. Dies zeigt ein Blick in die Lehrbücher der Kriminologie, worin es heißt, diese sei „mindestens zweifelhaft“, finde „praktisch keine empirische Stütze“, sei „gering“ beziehungsweise „kaum nachweisbar“.

Unabhängig davon widerspricht das Einsperren von Menschen zunehmend den menschenrechtlichen Standards, die seit den Anfängen der Strafanstalt entwickelt wurden. Das betrifft die Zwangsarbeit (welche überall sonst verboten ist), die erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit (jedenfalls in heterosexueller Hinsicht) und die durch die niedrigen Arbeitslöhne zwangsläufige Armut der Gefangenen. Jede Langzeitinhaftierung müsste heute sogar unter dem Gesichtspunkt der Folter geprüft werden.

Foto: Jean-Philipp Baeck

Johannes Feest, 78, Kriminologe und Rechtssoziologe, war von 1974 bis 2005 Professor an der Universität Bremen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörten das Recht und die Realität der Gefängnisse.

Hinzu kommt, die stillschweigend in Kauf genommene Mitbestrafung Dritter (Kinder, Partner, Eltern, Freunde, Arbeitgeber etc.). Trotz alledem wird unter Politikern und in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin davon ausgegangen, dass die Strafanstalten eine nützliche Funktion haben und dass sie für den Zusammenhalt der Gesellschaft unverzichtbar sind.

Das wirft die Frage auf, ob und in welchem Maße eine Institution tatsächlich unverzichtbar sein kann, welche so schwerwiegende Mängel aufweist. Der Ruf nach Alternativen zum Gefängnis hat bisher weder zu überzeugenden Antworten geführt noch zu einer nachhaltigen Reduktion der Gefängnispopulation. Das liegt wohl daran, dass die Frage falsch gestellt ist. Wenn die Strafanstalt weiterhin die Reaktion auf äußerst verschiedenartige soziale Probleme darstellt, die wir unter dem abstrakten Begriff der „Kriminalität“ zusammenfassen, dann kann es dafür keine allgemeingültige Alternative geben. Wir müssen für diese Probleme jeweils unterschiedliche Lösungen suchen.

Für Bagatelldelikte (wie Schwarzfahren, Ladendiebstahl und Ähnliches) ist Entkriminalisierung die einzig richtige Lösung. Das sollte aber auch für Drogendelikte gelten, wodurch die Gefängnispopulation bereits halbiert würde. Bei den meisten anderen Straftaten müssten Formen der „restaurative“ beziehungsweise „transformative justice“ entwickelt werden, die auch ohne Strafanstalt auskommen (Streitschlichtung, Wiedergutmachung, Verurteilung zu Bewährung etc.). Das gilt insbesondere dann, wenn keine Wiederholungsgefahr besteht. Übrig bleiben wenige besonders schwere Straftaten, bei denen Wiederholung nicht ausgeschlossen werden kann. Dafür wäre die Maßregel der Sicherungsverwahrung neu zu fassen, etwa in Verbindung mit Sozialtherapie.

Zweifellos sind wir von einer solchen weitgehenden Abschaffung der Strafanstalt noch weit entfernt. Dennoch mehren sich neuerdings die Zeichen, dass der „penal abolitionism“ im Aufwind ist. Dafür spricht die gut (vor allem von jungen Teilnehmern) besuchte International Conference on Penal Abolition, die im Juni in London stattfand.

Auf europäischer Ebene sind in diesem Jahr gleich drei einschlägige Ereignisse zu vermelden: die Publikation eines Sammelbandes mit Beiträgen von KriminologInnen aus Italien, Deutschland, England, Frankreich und Skandinavien mit dem evokativen Titel „NO Prison“ (London: EG Press, 2018), die Tagung der „European Group for the Study of Deviance and Social Control“, auf der das Buch von seinen AutorInnen vorgestellt wird (2. bis 24. August in Ljubljana) und die geplante Gründung eines „NO prison“-Movement (am 9. November in Venedig).

Auch in Deutschland hat sich kürzlich etwas bewegt: Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe hat Fachleute um kurze Antworten auf die Frage gebeten: „Wie viel Gefängnis braucht die Gesellschaft?“

Meine eigene Antwort lautet wie folgt: Es gibt keine wissenschaftlich begründbare Antwort auf diese Frage. Bernd Maelicke hält mindestens 50 Prozent der Haftplätze für verzichtbar. Frieder Dünkel hat zu zeigen versucht, dass man mit 25 Prozent auskommen könnte. Aber selbst die meisten echten Abo­litionisten [Befürworter einer Abschaffung der Gefängnisstrafe, d. Red.] scheuen davor zurück, eine restlose Abschaffung aller Gefängnisse zu fordern.

Bleibt die Frage, was denn das von den Abo­litionisten angestrebte Minimum ist. Hermann Bianchi nennt „acht oder neun Prozent“, ohne aber zu sagen, wie er zu dieser Zahl kommt. Solche Zahlenspielereien sind nicht sehr überzeugend. Ich halte es mit Thomas Mathiesen, der die Frage nach dem Wieviel für unbeantwortbar, weil falsch gestellt, hält. Für ihn ist der Abolitionismus eine Haltung, die Nein sagt zu unmenschlichen Institutionen (wie Sklaverei, Folter, Todesstrafe und eben auch Gefängnis).

Mit wie wenig Gefängnis die Gesellschaft auskommt, kann sich nur in der Praxis zeigen. Dazu müsste man ausprobieren, was sich alles „gefahrlos“ weglassen ließe, Schritt für Schritt: jedenfalls die Ersatzfreiheitsstrafe! Zweifellos die Abschiebungshaft! Sicherlich die Freiheitsstrafe bei Bagatelldelikten! Aber auch die lebenslange Freiheitsstrafe! Wohl auch der Strafvollzug bei Jugendlichen? Oder der bei Senioren? Vielleicht sogar der Strafvollzug bei Frauen? Letztlich könnte es sich herausstellen, dass sogar der ganze geschlossene Strafvollzug verzichtbar ist (und die forensische Psychiatrie gleich dazu)? Es käme auf den (Modell-)Versuch an.

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