Mit den Spielregeln tricksen

DAS DOKUMENTARISCHE FAKEN Die Schauspieler erzählen, warum sie hier sind, der Zuschauer fragt sich, wann es endlich losgeht: Wie der Schweizer Regisseur Boris Nikitin im Hebbel am Ufer das Theater selbstreflexiv entkleidet

Einmal reden sie über Schauspieltechnik. Wie stelle ich Entsetzen dar? Wie spiele ich Weinen?

VON ALEXANDER HAAS

Die Bühne ist – bis auf ein paar schlichte Requisiten leer. Kostüme – der Begriff würde völlig in die Irre führen. Figuren – Fehlanzeige. Auch Schauspieler gibt es meistens keine im Theater von Boris Nikitin, der im HAU 3 „Imitation of Life“ herausbringt.

Der in Basel geborene Regisseur, 30 Jahre jung und Absolvent des in der Szene hoch gehandelten Studienganges Angewandte Theaterwissenschaft an der Uni Gießen, entkleidet in seinen Stücken das Theater. Die Abende wirken auf den ersten Blick extrem selbstreflexiv. Dass ein junger Theatermacher sich nicht weiter mit überbrachten Bühnenkonventionen aufhält, ist in Zeiten der Allgegenwart des Dokumentarischen und Alltäglichen auf deutschen Bühnen zwar keine große Überraschung. Doch bei Nikitin wird die Ästhetik der Laien, Experten, Komplizen oder auch der Profis noch einmal weiter gedacht. Kaum eine Regiegruppe, die den Status dessen, wovon sie in unterschiedlichster Art und Weise erzählen oder berichten lässt, den Status des Dokuments also, so sehr in Frage stellt wie Nikitin.

„Wer ist das da vorne eigentlich?“ ist ein Satz, der dem Regisseur im Gespräch häufiger entfährt. Bislang hat Nikitin, der vor Gießen ein prägendes Jahr Assistent bei René Pollesch war, drei Stücke inszeniert: Die Soloperformances „Woyzeck“ (nach Büchners Drama) und „F wie Fälschung“ (nach Orson Welles’ gleichnamigem Filmessay) und eben zuletzt „Imitation of Life“. Die ersten beiden entstanden noch im Studium, wurden aber auch an etablierten freien Produktionsstätten gezeigt. Im November/Dezember sind beide zum Impulse Festival, der Bestenschau des deutschsprachigen Freien Theaters in Bochum, Düsseldorf, Köln und Mülheim, eingeladen. Die neue Produktion gastiert jetzt am Hebbel am Ufer.

„Imitation of Life“ beginnt als dokumentarisches Porträt über seine beiden Darsteller – natürlich mit der für Nikitin typischen Ironisierung des Anfangs einer Theateraufführung. Licht aus, Stille, „der Moment davor“, so etwas gibt es hier nicht. Die Performer Malte Scholz und Beatrice Fleischlin treten in Straßenkleidung auf die leere Bühne und erklären den Zuschauern in ziemlich beiläufiger Art und Weise, wie sie heißen, wie sie zu diesem Stück gekommen sind und worum es geht. Das dauert etwa 40 Minuten. Wahrscheinlich verspüren nicht wenige Zuschauer schon nach einer Viertelstunde den Wunsch, es möge jetzt endlich mal losgehen. Natürlich ist es das schon längst.

Denn das ist der Gegenstand des Abends: Die Spieler sprechen, der Zuschauer fragt sich, wann es beginnt. An dieser Stelle profitiert die Show vor allem von ihrer Humorfähigkeit. Die Darsteller sprechen mit großer Gelassenheit, was dreist ist angesichts der wenigen „wichtigen“ Informationen, die man erhält. Sie erzählen Stationen ihrer Biografien und von den Verbindungen zu ihrem Engagement bei „Imitation of Life“. Einmal reden sie über Schauspieltechnik. Wie stelle ich Entsetzen dar? Wie spiele ich Weinen? Es ist faszinierend, Beatrice Fleischlin in diesen Momenten zuzusehen und dabei zu erkennen, wie wenig das Theater braucht, um gut zu sein. Und wie das Reden über etwas schon zugleich der performative Akt ist, um den es im Theater geht – zwischen Darsteller und Zuschauer. Nikitin sieht das Illusionstheater und das Dokumentartheater als zwei Seiten einer Medaille an.

Schaut man sich seine drei Stücke an, hat man den Eindruck, dass der Darsteller und seine Funktion auf der Bühne immer stärker ins Zentrum von Nikitins Interesse rücken. Während Gruppen wie Rimini Protokoll, Gintersdorfer/Klaßen oder Hofmann und Lindholm kaum an der Identität ihrer Darsteller rütteln, gibt es für Nikitin keine eindeutige Antwort auf die Frage: „Wer ist das da vorne eigentlich?“

In „Imitation of Life“ geht er deshalb weiter, als es in „Woyzeck“ noch der Fall war. In „Woyzeck“ kippt der analytisch-dokumentarische Teil nach einem Drittel. Ab da hat der Abend etwas stark Filmisches. Immer wieder führen die Erzählungen der Darsteller aus ihrem Leben in etwas Fantastisches. Nikitin baut David Lynch ein. Eine Erzählung von Bearice Fleischlin, die von ihrer Ankunft in Los Angeles am Flughafen ausgeht, verknüpft er mit Musik aus „Mullholland Drive“. Malte Scholz erzählt eine merkwürdige Theorie, laut Nikitin beeinflusst von Gedanken Slavoj Žižeks, die ausgeht vom Menschen als einem Produkt eines Unfalls namens Urknall und der beim Theater als Ort der Liebe endet. Dazu flackern im dunklen Saal die Neonröhren, eine Stimmung, die, technisch präzise, „Lost Highway“ ins Spiel bringt.

So oszillieren die Darsteller vor den Augen des Publikums immer wieder zwischen ihrer eigenen Biografie und dem, was Nikitin ihre „Potenzialität“ nennt. Es gibt keine einfachen, kohärenten Lebenslinien, die erzählt, und schon gar keine Handlung, die verfolgt würde. Am Ende heißt es dann auch nur abrupt: „Malte, sollen wir gehen?“ – „Ja, lass uns gehen.“ Auch das ist fast ein Zitat, aus Becketts „Warten auf Godot“. Hochgradig selbstreflexives Theater eben.

■ Boris Nikitin: „Imitation of Life“. Premiere im HAU 3, 29. Oktober, 20 Uhr, tägl. bis 1. November