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Einmal die Wundertüte, bitte

Vom Zweifel zur Erfolgsstory: Die Nord-Art findet schon zum 20. Mal in Büdelsdorf bei Rendsburg statt. Werke aus aller Welt locken jährlich Tausende Besucher in die Kleinstadt. Die Besucher sollten für Überraschungen offen sein

Auswürgen oder aufessen: Was dem Esel passiert, lässt Künstler Zhang Dali offen Foto: Esther Geißlinger

Von Esther Geißlinger

Glasaugen starren vorwurfsvoll. Die Tiere, zu denen sie gehören, liegen platt ausgerollt unter Autoreifen. Tote Füchse mit staubigen Schwänzen, geknickten Ohren. Alte Pelzkragen hat der Pariser Künstler Gilles T. Lacombe für seine Rauminstallation „Alles muss raus“ verwendet. Lacombe ist ein alter Bekannter auf der Nord-Art. Der Franzose war schon häufig in Büdelsdorf bei Rendsburg, wo die Ausstellung in den ehemaligen Fabrikhallen und dem Parkgelände rund um die Carlshütte bereits zum 20. Mal stattfindet. 100 Tage lang, noch bis zum 7. Oktober, sind rund 1.000 Werke von 200 Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt zu sehen. Es ist, wie schon in den Jahren zuvor, eine bunte Wundertüte geworden.

Egal ob klassische Bildhauerei oder digitale Techniken, die Stilform ist nicht entscheidend, ob es ein Kunstwerk auf die Nord-Art schafft: „Es kommt auf die Idee an“, sagt Wolfgang Gramm, selbst Künstler und Kurator der Nord-Art. Er sitzt in seinem Büro, zieht an einer Zigarette und blickt durch den Rauch zurück auf die Anfangstage der Ausstellung, die heute jährlich rund 100.000 Kunstinteressierte in die Kleinstadt Büdelsdorf bringt. „Im Grunde habe ich unter Duldung die Fabrik besetzt.“

Bis heute funktioniert die Nord-Art, weil es mit dem Ehepaar Hans-Julius und Johanna Ahlmann private Sponsoren gibt. Die Ahlmann-Familie gründete die Eisengießerei Carlshütte 1827. Ab 1931 führte mit Käte Ahlmann erstmals eine Frau die Firma. Einer ihrer Söhne gründete das Unternehmen ACO, bis heute ein Weltmarktführer für Entwässerungssysteme und Abwasserbeseitigung.

Vor 26 Jahren überredete Wolfgang Gramm das Ehepaar Ahlmann zu einer ersten Ausstellung. „Man war sich seiner Sache nicht sicher, man zweifelt“, schreiben die beiden im Grußwort des aktuellen Katalogs. „Eine wichtige Respektsperson sagte, es reiche, wenn wir Geld verdienen und es der Kunst zur Verfügung stellen. Es sei recht überflüssig, dass wir uns selbst als Ausstellungsmacher versuchen.“

Es schwingt ein kleines Ätschi mit, denn das Konzept des „Gesamtkunstwerks von Künstlern für Künstler“, so Gramm über die Nord-Art, ging auf. Finanziell allerdings buttern die „Gastgeber“ Jahr für Jahr zu. Wobei Gramm das Verhältnis gar nicht schlecht findet: Rund drei Viertel ihrer Kosten erwirtschafte die Nord-Art selbst. „Das schafft kein privates Museum.“

Der Ruf der Schau sei inzwischen weltweit gut – um die 3.500 Bewerberinnen und Bewerber reichten Werke ein. Viele davon stammen aus China. Die bekanntesten und erfolgreichsten Künstler des Riesenreichs stellen regelmäßig in Büdelsdorf aus. Wie zum Beispiel das Phönix-Paar von Xu Bing, das unter der Decke der großen Halle schwebt, in der früher Metall bearbeitet und Eisen gegossen wurde. Jeder der Drachenvögel ist gut 30 Meter lang und wiegt acht Tonnen. Sie sind gefertigt aus Maschinen, Bauteilen und Schrott.

Wie einige andere Skulpturen und Gemälde sind die Phönixe bereits zum zweiten Mal zu sehen – allerdings an einem anderem Ort. Der Fabrikcharakter des Ortes macht einen Teil der Besonderheit dieser Ausstellung aus, auch wenn im Lauf der Jahre Böden geglättet, Wände versetzt und Treppen gesichert wurden, um Stolpergefahren zu bannen.

Die Nord-Art, so will es das Konzept, erfindet sich jedes Jahr neu, stellt Werke in frische Zusammenhänge, lässt andere Blickwinkel entstehen. So schaut ein meterlanger Hai aus der größten Halle in den sogenannten Pavillon hinein, der in diesem Jahr KünstlerInnen aus der Tschechischen Republik gewidmet ist. Neben diesem Länderschwerpunkt geht es auch um den Kontrast zwischen alten und neuen Techniken: Die Venus der Prager Künstlers Michal Gabriel wird nicht mehr aus dem Meeresschaum, sondern aus dem 3-D-Drucker geboren.

„Es darf alles sein, nur nicht langweilig“

Inga Aru, Co-Kuratorin der Nord-Art

Im Gegensatz zu diesen digitalen Skulpturen stehen die Werke von Jan Koblasa. Der in Tabor in der heutigen Tschechischen Republik geborene Bildhauer arbeitete von 1969 bis 1998 als Professor an der Kieler Muthesius-Hochschule und stellte weltweit aus – auch regelmäßig bei der Nord-Art. Er starb 2017 in Hamburg und wird posthum als „Fokus-Künstler“ der Ausstellung mit einer Sonderschau in der Wagenremise im Park geehrt.

Wie es die einzelnen Kunstwerke auf die Nord-Art schaffen, erklärt Inga Aru, selbst Künstlerin und gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Gramm für die Leitung der Ausstellung zuständig, kurz und bündig: „Es darf alles sein, nur nicht langweilig.“ In mehreren Runden wird gesiebt, bis eine spannende Mischung herauskommt.

Ein übergeordnetes Thema gibt es nicht, aber es lassen sich thematische Inhalte finden – Mensch und Umwelt etwa. Sowohl die Schrott-Phönixe aus China und die plattgefahrenen Fuchspelze verwenden Müll, um Kunst zu schaffen. Menschen und Tiere kombiniert der Chinese Zhang Dali mit einer Skulptur, in der ein Esel von einem Riesenkopf verschlungen oder hinausgewürgt wird – ein für beide sichtbar schmerzhafter Prozess.

Nicht nur Etablierte, auch Neulinge sollen zum Zuge kommen, aus allen Ecken der Welt, in allen Techniken: Malerei, Fotografie, Bildhauerei, Installationen, Videokunst. So zuckt denn Aru nur mit den Achseln bei der Frage nach ihrem Lieblingsstück in der diesjährigen Ausstellung: „Alles zusammen ist das Highlight.“

Erleben lässt sich die Nord-Art auch mit Musik: Das Festivalorchester des Schleswig-Holstein Musikfestivals probt öffentlich auf dem Ausstellungsgelände, bei den Generalproben sind auch prominente Künstler dabei.

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