Der Dalai Lama sorgt für Streit

DIPLOMATISCHE VERSTIMMUNGEN Zum Ärger Chinas hat Indien den tibetischen Exilführer in ein Kloster eingeladen. Das steht in einer Region, die Peking als sein Territorium beansprucht

Die indische Wochenzeitung „Tehelka“: „Warum hackt China auf Indien herum?“

AUS DELHI GEORG BLUME

Erst hätten es die Chinesen auf die Japaner abgesehen gehabt, weil die ihre Kriegsvergangenheit leugneten. Dann auf die Taiwaner, weil die unabhängig werden wollten. Doch jetzt seien die Inder an der Reihe. So sieht es die indische Wochenzeitung Tehelka. „Warum hackt China auf Indien herum?“, fragt das Blatt auf seiner neuesten Titelseite, von der – wie könnte es anders sein? – ein feuriger chinesischer Drache giftet.

Erschreckt, erregt, empört – so nimmt es die indische Öffentlichkeit derzeit mit den großen chinesischen Nachbarn auf. Der tut, was er immer tut, wenn es um Tibet geht. Er ist tief verärgert, wenn jemand den Dalai Lama empfängt. Bundeskanzlerin Angela Merkel weiß davon ein Lied zu singen.

Nun aber planen die Inder einen ganz besonderen Empfang für den unter ihnen exilierten und doch so beliebten tibetischen Führer: Sie laden ihn im kommenden Monat ins lama-buddhistische Tawang-Kloster in Indiens nordöstlichstem Bundesstaat Arunachal Pradesh ein. Das Kloster steht in einem Gebiet, das eine alte englische Kolonialgrenze Indien zuschlug, aber von China als sein Staatsterritorium beansprucht wird, weil es kulturell zu Tibet zählt. Hier möchte Peking mitreden, wenn es hohen Besuch gibt. Das darf es aber nicht.

Also hat nun auch Indien seinen China-Streit um den Dalai Lama. Er schlägt höhere Wellen als im Westen. Schon erwägt Indien die neue Kriegsgefahr. China habe Indien „gefährliche, provokative Schritte vorgeworfen“. In der Sprache der Diplomatie seien das die Vorworte zum Krieg, mutmaßt der indische Starkolumnist Prem Shankar Jha. Den indischen Chefsinologen Srikanth Kondapalli erinnert die heutige Situation an die Kubakrise 1962 und den chinesisch-sowjetischen Grenzkrieg 1969. „Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Konflikt auch zwischen Atomstaaten ausbrechen kann“, argwöhnt Kondapalli.

Neidisch schielt ein Teil des politischen Establishments in Delhi auf die militärische Stärke Chinas. „Militärisch haben wir weder die Fähigkeit noch die Absicht, mit China mitzuhalten“, klagte der Vorsitzende der obersten indischen Heeresführung, Admiral Sureesh Mehta, vor seinem Rücktritt in diesem Herbst.

Das alles klingt nach der in Delhi sonst über dem alten Erzfeind Pakistan ausgegossenen, üblichen Hardliner-Propaganda. Doch die indische Erregung hat im Kern triftige Gründe. Denn Peking sorgt sich derzeit mehr denn je um Tibet. Man glaubte dort die Lage nach 20 Jahren Marktreformen stabilisiert. Dann kam der tibetische Aufstand vom März vergangenen Jahres und warf die chinesische Integrationspolitik um Jahrzehnte zurück. Wer aber trägt die Schuld dafür?

Eine bequeme Antwort in Peking lautet: Indien. Weil es immer noch dem Dalai Lama und seiner Regierung Exil bietet. Weil sich von Indien aus der tibetische Widerstand in China organisiert. Weil Indien solche Dinge tut, wie zum Beispiel den Dalai Lama in ein Kloster zu laden, das aus Pekinger Sicht eigentlich China gehört. Der Dalai Lama sei dort ein „verehrter Gast“, musste sich Chinas Premierminister Wen Jiabao erst kürzlich von seinem indischen Amtskollegen Manhoman Singh belehren lassen. Das war Indiens Boulevardblättern eine nationalstolze Titelspalte wert.

Dabei wissen Singh und Wen, dass ihnen außer der Zusammenarbeit gar keine andere Wahl bleibt. Sie ist die Voraussetzung für das andauernde Wirtschaftswachstum in beiden Ländern. Singh forderte zuletzt, dass China und Indien gemeinsam das durch den Klimawandel beschädigte Ökosystem des Himalajas retten müssen.

Wen stimmte zu. Bei den Klimaverhandlungen in Kopenhagen vertreten beide Regierungen bisher nahezu identische Positionen. Und doch hat sich der öffentliche Diskurs, mehr in Indien als in China, gegenüber dem offiziell guten bilateralen Verhältnis verselbstständigt. Tiger und Drache müssen aufpassen, dass sie einander nicht die Augen aushacken.