Gesellschaft verhandeln

Israel ist für den Soziologen Natan Sznaider ein interessanter Testfall – es ist religiös und säkular und verbindet Ethnizität mit Universalismus

Natan Sznaider: „Gesellschaften in Israel“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 318 Seiten, 28 Euro

Von Kevin Zdiara

Das deutsche Bild von Israel ist bestimmt von Soldaten und ultraorthodoxen Juden. Automatisch wird das kleine Land im Nahen Osten dadurch mit Krieg und religiösem Fanatismus assoziiert. Die so­zia­le Wirklichkeit, real existierende Grautöne sowie die gesellschaftliche Diversität und Komplexität Israels stören in solchen Darstellungen, denn sie passen nicht in eine Schlagzeile. Doch auch im siebzigsten Jahr seines Bestehens befindet sich Israel auf der Suche nach seiner Identität. Was heißt es, jüdisch und demokratisch zu sein, wenn rund ein Viertel der Gesellschaft nichtjüdisch ist?

Der in Mannheim geborene israelische Publizist und Soziologe Natan Sznaider legt einen Band vor, der sich genau mit diesen Aspekten beschäftigt. In zehn Kapiteln widmet er sich einzelnen sozialen Facetten und historischen Ereignissen Israels, bietet einen Einblick in die im Land existierenden Gesellschaften und zeigt die damit einhergehenden Konfliktlinien auf.

Für Sznaider ist Israel ein interessanter soziologischer Testfall, weil es gleichzeitig moderne und traditionelle Gesellschaft ist, religiös und säkular, Ethnizität mit Universalismus verbindet und sich immer noch im Kriegszustand befindet. Hieraus entstehen Verhandlungsprozesse in den israelischen Gesellschaften, bei denen es um das israelische Selbstverständnis geht, so Sznai­der. Seiner Meinung nach könnte Israel aber gerade damit für europäische Staaten zum Vorbild werden, weil Auseinandersetzungen zwischen partikularistischen und universalistischen Ansprüchen sowie Fragen der Identität zukünftig auch hier drängender werden und Israel dabei als ein durchaus erfolgreiches Modell gelten kann. „Nicht der Konflikt ist überraschend, sondern die Stabilität. Sie ist möglich, weil die Gesellschaften in Israel ständig gezwungen sind, ihre radikalen Differenzen über das gute und richtige eben miteinander zu verhandeln“, schreibt Sznai­der.

Diese Verhandlungsprozesse analysiert er scharfsinnig und erfrischend unorthodox. Er spannt dabei den Bogen von Hannah Arendt und dem Eichmann-Prozess über die queere Sängerin Dana International bis zum israelischen Gegenwartskino. Aber gerade auch im Kapitel über die Geschichte des arabischen Orts Kafr Qasim und den arabisch-israelischen Fußballstar Walid Badir zeigt Sznai­der, wie schwierig, komplex und geschichtsbeladen diese Prozesse sein können. Sznaider nähert sich den unterschiedlichen Gruppen über individuelle Beispiele und nimmt so den Leser stets mit auf seine soziologische Reise. Er bietet dem deutschen Leser damit einen sehr umfassenden Einblick in die israelischen Gesellschaften und erweitert dadurch das hierzulande sehr eingeschränkte Bild des kleinen Landes.

Sznaider erweitert das sehr eingeschränkte Bild

Doch nicht nur die Beschreibung dieser einzelnen für sich spannende Teile des israelischen Mosaiks macht das Buch lesenswert. Es ist vor allem Sznai­ders Fähigkeit, diese Erkenntnisse sprachgewandt umzusetzen, die die Lektüre auch für Nichtsoziologen zu einem Gewinn macht.

Ob das Experiment Israel gelingt, kann Sznaider nicht versprechen, aber sein Buch macht Hoffnung.