Rattle verlässt Philharmoniker: Ein letzter Sekt mit Sir Simon
Als Chefdirigent hat er die Philharmonie weit geöffnet und ihr doch ein ganz persönliches Moment verliehen. Nun geht Sir Simon Rattle.
Ein Abend mit ihm – er endet mit diesem besonderen Moment, dem Rattle-Moment: das Herbeiklatschen des Dirigenten, bis er ein letztes Mal zum Vorschein kommt, wenn das Orchester die Bühne längst verlassen hat. Allein steht er dann da, schüchtern fast, bis auch er abtreten darf. Am Mittwochabend wird Sir Simon Rattle das letzte Mal als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker ans Pult treten – ein lange angekündigter Abschied, ein Long Goodbye mit vielen Höhepunkten.
Etwa diesem: Samstag, 3. Juni 2017, Simon Rattle, Berliner Philharmoniker, auf dem Programm Le Sacre Du Printemps, Strawinskys große Ballettmusik – viereinhalb Jahre, nachdem der Brite im Januar 2013 bekannt gegeben hatte, im Sommer 2018 den Chefdirigentenposten abzugeben. Etwas Großes passiert an diesem Abend in der Berliner Philharmonie, größer als sonst. Man spürt es; die Anspannung – im Sinne von erwartungsvoller Vorfreude – in den Weiten des Scharoun’schen Konzerthauses ist ausgeprägter, die Ungeduld beim Einnehmen des präkonzertlichen Sekts oder Espressos drängender, die ganze Atmosphäre flirrender als sonst schon.
Die Ahnung trog nicht, dieser Abend wurde ein Höhepunkt in Rattles Long Goodbye, das sich – vom Bekanntwerden seines Ausscheidens gerechnet – über fünfeinhalb Jahre hinziehen würde. Le Sacre mit einer unglaublichen Intensität gespielt; Rattle, der gelernte Schlagzeuger, peitschte Rhythmen ins Orchester, die die Frühlingsweihe als apokalyptische Erzählung wirken ließen. 1913, bei der Uraufführung, war das Werk ein Skandal, es führte die Musik in die Moderne.
In Rattles Berliner Wirken wurde es zu einem Schlüsselwerk, mit Le Sacre setzte er die wohl stärkste Markierung seiner seit 2002 andauernden Amtszeit. 2003 wählte Rattle es als Grundlage des ersten großen Education-Programms; ein Tanzprojekt mit 250 Jugendlichen aus sogenannten Problemschulen, der dabei entstandene Dokumentarfilm „Rhythm Is It!“ transportiert bis heute die verbindende Kraft der Musik, die so oft beschworen und in Konzertsälen, in denen das Publikum so homogen ist, doch so selten zu betrachten ist.
Mit dem letzten Konzert in der Philharmonie und dem Waldbühnenabend findet Rattles langer Schlusssatz nun sein Ende, und manchmal konnte man vergessen, dass der Abschied schon 2013 begonnen hatte. Da kam noch der großartige Beethoven-Zyklus, da gab es einen zum Niederknien berührenden Parsifal, John Adams wurde Composer in Residence.
Was bleibt von Simon Rattle, wenn er das Orchester nun sich selbst überlässt, bevor es zur Spielzeit 2019/20 Kirill Petrenko übernimmt? Es scheint, als sei das ganze Haus an der Herbert-von-Karajan-Straße 1 offener geworden, als habe sich das, was drinnen geschieht, zwar nicht weniger konzentriert der Musik, der Werke und ihrer Deutung verschrieben, sich aber dem schillernden, farbenreichen und Räume öffnenden Bau angepasst.
Sir Simon Rattles letztes Indoor-Konzert mit den Philharmonikern – am heutigen Mittwoch in der Philharmonie mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6, mit der er 1987 als 32-jähriger Gastdirigent bei den Philharmonikern debütiert hat – ist schon ausgebucht.
Dafür ist am Samstag um 20.15 Uhr die Generalprobe für das ebenfalls ausverkaufte traditionelle Waldbühnenkonzert tags darauf öffentlich. Karten waren am Dienstag noch für 30 Euro an der Kasse und online für 32 Euro zu haben. (sta)
Kinder dürfen in die Tuba pusten
Die Philharmonie ist kein Ort mehr, in dem verschwindet, wer sich dem musikalischen Hochgenuss ungestört und weltabgewandt widmen will. Sie ist ein Haus, in dem Kinder am Tag der offenen Tür in die Tuba des Tubaspielers pusten dürfen, bis ein schräger, tiefer Ton herauskommt, ein Haus, in dessen Foyer sich die Leute drängeln, um bei Lunchkonzerten dabei zu sein, ein Haus aber auch, in dem noch immer oft die Klassiker des Konzertkatalogs erklingen, in dem seit Rattle die Programme aber doch vielfältiger geworden sind.
Mit zeitgenössischen Komponisten hat er das Orchester und das Publikum vertraut gemacht, allen voran der Brite Thomas Adès, dessen „Asyla“ er beim Antrittskonzert dirigierte, was prägend wurde. Immer wieder mal ein Stück Neuer Musik, eingestreut vor einer langen Mahler- oder Bruckner-Symphonie, von Rattle „Tapas“ genannt, Häppchen, die Lust machen sollen auf mehr.
Rattle, ein Musikerzieher, ein Anpacker, als der er auf den durchgeistigt wirkenden Claudio Abbado folgte. Einer, der mit Lust ans Werk ging, der ausprobieren wollte, der Ideen hatte. Mitglieder des Orchesters, die Karajan, Abbado und Rattle erlebt haben, sagen, er sei der, mit dem man am ehesten ein Bier hätte trinken gehen wollen; andere lästern, seit Karajan sei der Anspruch, den der Chef jeweils zu artikulieren imstande gewesen sei, steil bergab gegangen.
Nun ja, man kann es in einem Weltklasse-Orchester mit 128 Planstellen nicht jedem recht machen. Wenn er 80 werde, so erzählt Rattle es in einer Arte-Dokumentation, werde seine jüngste Tochter 21 Jahre alt sein, das wolle er miterleben. Um das zu erreichen, müsse man sich schützen. Bemerkenswert offen war das als Begründung für den Ausstieg mit 63.
Rattle wird mit seiner Familie in Berlin wohnen bleiben. Gelegentlich wird er in London sein, um dort das London Symphony Orchestra zu formen. Er wird schon in der kommenden Saison als Gast zu den Philharmonikern kommen – und er wird frei sein von dem Druck, dem er nicht länger standhalten wollte.
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