: Träumen Schafe von schrecklichen Menschen?
Das Opferlamm deutet darauf hin, dass das Schaf in einer besonderen Beziehung zur göttlichen Macht steht
Von Benno Schirrmeister
Mit dem Schaf beginnt alles. Im Gesang des Schafs – im Blöken – kommt der Mensch zur Sprache. Das ist, wie auch sonst, eine norddeutsche Erkenntnis. Johann Gottfried Herder hat sie am Ende seiner Zeit in fürstbischöflich-lübischem Dienst zu Eutin, kurz bevor er die Stelle in Bückeburg antritt. Da rockt er „flüchtig, in Eile, in den letzten Tagen des Decembers“ seinen Sprachursprungs-Wettbewerbsbeitrag runter, schließlich ist am 1. Januar 1771 Einsendeschluss und die Post damals – ist eher so naja.
Klar, Sprachursprungstheorien können letztlich nur Quatsch sein, weil: Die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Sprache ist, ganz genau!, Sprache. Über diesen Graben der Einsicht führt keine Brücke. Sagt Humboldt. Und Herder ahnt das auch, deswegen schreibt er ja vorneweg: Schon als Tier hat der Mensch … logisch.
Aber der Gedanke: Ohne Schafe gibt es den Menschen nicht, zumindest weder in Afrika noch in Asien geschweige denn in Europa, der ist der Empirie teilweise zugänglich. Zu der Frage ließe sich archäologisch, an Gegenständen und in Funden, forschen. Und hätte es das Schaf nicht gegeben, das, gerade weil es so passiv, so regressiv, so lammfromm sich hingibt, als Medium der Gewalt, als Opfer geeignet ist, wäre den Konquistadoren Südamerikas kultische Praxis wohl nicht so grausam und so fremd vorgekommen, dass sie sich gezwungen sahen, die Azteken auszurotten und ihr Land und ihre Tempel zu plündern.
Also vermutlich. Jedenfalls haben die Schreiber der Pizarros et Cie. es damit ab dem 16. Jahrhundert legitimiert, und Schafe mitgebracht. Und sich dann zurück in Spanien ganz auf das geraubte Gold und die Schafe verlassen, bis sie, das ist sozusagen die Rache des Schafs, ihre proppere Halbinsel wirtschaftlich ruiniert hatten. Aber das ist ein anderes Kapitel. Und diese Was-wäre-wenn-Fragen zielen stets auf einen Bereich des Unbeweisbaren.
Gesichertes kulturhistorisches Faktum ist hingegen die Transformation des Menschenopfers in Schafopfer, die sich dann als weiter in Surrogat-Opfer sublimierbar erwiesen haben, etwa aus Brot und Wein mit kannibalistischem Wording (mein Leib/mein Blut). Letztlich sind dies nur in eine symbolische Ordnung übertragene Ausläufer des in der Jungsteinzeit vollzogenen, entscheidenden Schritts, den der Journalist Eckhard Fuhr in seinem schmalen, aber gewichtigen Werk „Schafe. Ein Porträt“ zu Recht als „mentale Revolution“ bezeichnet: Die Schafhaltung, die zeitlich genau den Übergang von nomadischen Jäger- und Sammler- zu Siedlergesellschaften markiert, verweist auf die Erkenntnis der Herde als einer produktiven Ressource.
Größter Schritt für die Menschheit
„Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser mentalen und intellektuellen Revolution ist kaum zu überschätzen“, so Fuhr. „Es ist trotz Raumfahrt und Digitalisierung immer noch der größte Schritt, den die Menschheit je gemacht hat.“ Domestizierung ist gleich Ökonomisierung. Und die verwandelt das Schaf als Schlacht- und Herdentier – lange vor der Entdeckung von Milch und Wolle – zum Inbegriff eines sich selbst hervorbringenden und vermehrenden Produkts, weil ihm der Tod auf irritierende Weise nichts anhaben kann: Das gejagte Wild ist ein Individuum, das einmal erlegt, aufgehört hat zu sein. Das Schaf ist immer Teil einer Herde, die nach seiner Schlachtung weiter wächst. Es wird aufgegessen und wird trotzdem immer mehr. Auch wenn kein Schaf das so je unterschreiben würde: Sein Tod bleibt uneigentlich, zeichenhaft. Und so geht dem Menschen im Schaf die symbolische Ordnung auf, die sich gegen die natürliche etabliert. Wie Herder schreibt.
Das Schaf wird Zeichen, das nie nur auf sich selbst verweist, sondern auf anderes, das alles Mögliche sein kann. Wie der Mensch darauf zu reagieren hat, muss er also mit sich selbst erst einmal klären, „[s]obald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennenzulernen“. Und dann steht es da, ganz wie es sich des Menschen „Sinnen äußert“. „Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal, – das Schaf blöket! sie hat Merkmal gefunden.“ Und sobald das Schaf dann wieder vor die Seele tritt weiß, sanft, wollicht, wartet die, bis es blökt, und sie so: „Ha! du bist das Blökende!“, und es stimmt. Und fertig ist die Sprache.
Das ist – natürlich – eine ziemlich menschliche Perspektive. Ein Schaf würde so mit Sicherheit nicht denken. Und wenn es von Menschen träumt, kann dies kein schöner Traum sein: Es muss ja die ganze Kultur der Menschen auf sich nehmen und ertragen. „Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt“, beschreibt der Anthropologe René Girard diese Übertragungsleistung in seinem epochalen Werk über den Sündenbock. „Es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich.“ Man könnte das Schaf für ein armes Schwein halten.
Beziehung zum Göttlichen
Allerdings nur, solange man unempfindlich bleibt für die wie auch immer metaphysische Macht des Opfers. Die ist essentiell. Denn es wäre ja völlig sinnlos, ein Tier zu opfern, von dem man annimmt, es hätte keinerlei Beziehungen zum Göttlichen, also zur Macht. Im Gegenteil, es geht darum, von dessen privilegierten Zugang zu profitieren – und sei es im infantilisierten Apostrophieren, wie es William Blake in seinem scheußlichen Gedicht vorlallt: „Little lamb, who made thee?/ Does thou know who made thee?“
Fuck U! Nicht der Hirt jedenfalls macht das Schaf zum Medium, sondern weil er sich aufopferungsvoll um die Herde kümmert, wird er zur Überperson. Das Lamm lädt ihn mit Macht auf. Möge das Schaf mit ihm sein.
Belege für die Vorstellung des mächtigen Schafs gibt es viele, zum Beispiel auch in totemistischen Kulturen. So hat Gerhard Kubik in der ugandischen Kubanga-Kultur beobachtet, dass das Nebentotem (Akabbiro) eines Clans jeweils durch ein dem Haupttotem (Omuziro) unterlegenes Tier eingenommen wird, „als ob der zweite Totem eine Art ‚jüngerer Bruder‘ des ersten wäre“. Dabei kann aber passieren, dass infolge von Heiraten der Löwe nur als Nebentotem erscheint. Frage also: Wer wird ihm dann übergeordnet? „Es ist das Schaf!“, stellt der Ethnopsychologe überrascht fest. Er deutet es als „humoristisch“.
Kann. Muss aber nicht. Auch die jüdische Tradition kennt das Bild des siegreichen Lamms. Die Apokalypse des Johannes speist sich daraus. Vielleicht am eindrucksvollsten findet sich die Gestalt im „Testament Josephs“, einem der „Testamente der 12 Patriarche“ aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Das prophezeit die Ankunft eines Messias, der zugleich Löwe und „unbeflecktes Lamm“ sei. Dieses ist es, das am Ende der Zeiten seinen großen Auftritt haben wird. „Und alle wilden Tiere und die Schlangen stürmten an“, heißt es nämlich am Ende des 19. Kapitels, aber „das Lamm besiegte sie vernichtend. Darüber freuten sich die Stiere und die Kuh“. Und Kollege Wolf kann so ziemlich einpacken.
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