NACH PANKOW: Zwei Kinder
Ein Sonntagsspaziergang Anfang Oktober zum Majakowskiring in Pankow. An den Straßenrändern die noch zarte Herbstfärbung der Linden und Platanen. Auf dem Weg die alten kommunistischen Bruderländer, die Botschaften von Kuba, Kambodscha und Togo. Der Fluglärm nimmt zu: Die Maschinen donnern über den Pankower Hausdächern Richtung Tegel.
Ankunft Majakowskiring: alte elegante Villen neben modernen Häusern aus Glas und Beton. In den Einfahrten wuchtige Geländewagen und schnittige Markenautos der gehobenen Preisklasse. Es ist sehr grün und sehr ruhig. Früher hat hier die SED-Führung gewohnt, Ulbricht, Mielke und Honecker. Jetzt riecht es hier nach Geld und bürgerlicher Vorstadtidylle.
Zweimal laufe ich den Ring entlang: Das goldene Oktoberlicht summt, die Häuser sind hübsch und steril, niemand spielt in den Gärten. Dann sehe ich doch noch Menschen: Zwei Kinder sitzen auf den Treppenstufen vor einem dieser modernen Glashäuser. Sie sehen traurig aus, schauen mit leerem Blick auf den Boden, sitzen mit dem Rücken zum Hauseingang. Das Mädchen trägt ein Blumenkleid, der Junge ein schickes weißes Hemd. Im Hintergrund sieht man, durch die Glasfassade hindurch, wie ein Ehepaar in der Küche streitet. Man kann nichts hören, sieht nur zornverzerrte Gesichter. Ich bleibe stehen, das Mädchen blickt auf, ich versuche, sie mit einem Lächeln aufzuheitern. Gequält lächelt sie zurück und schaut dann wieder auf den Boden.
Der Anblick der beiden erinnert mich an eine Zeit, in der ich als Kind sonntagnachmittags traurig auf Treppenstufen saß. Ich würde sie jetzt gerne umarmen, traue mich jedoch nicht. Im Weggehen sage ich ganz leise: Keine Sorge, dass wird schon wieder. Hey, ihr zwei Süßen, morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.
ALEM GRABOVAC
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