Kult um einen Antihelden

MYTHOS Eine kolumbianische Serie zeigt Pablo Escobar als grausamen Drogenboss – und erliegt seiner Faszination

Die Produzenten sind ausgerechnet zwei Menschen, die auch unter Escobar gelitten haben

AUS MEDELLÍN RUTH REICHSTEIN

Die Stühle im Eckrestaurant La Gloria de Gloria im kolumbianischen Envigado sind bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft flimmert vor Hitze. Die Chefin Dona Gloria trägt zwei volle Teller aus der Küche: riesige Portionen Chicharrones, gebackenen Schweinespeck. Sie stellt die Teller auf einem der Tische ab und bleibt stehen. Ihr Blick geht zum Fernseher. Alle Gäste schauen wie gebannt auf den Bildschirm – sie fühlen sich zurückversetzt ins Jahr 1986.

Der damalige Chef der kolumbianischen Tageszeitung El Espectador, Guillermo Cano, steigt nach einem Arbeitstag in sein Auto und fährt los. Die Restaurantgäste halten den Atem an. Nur noch das Flattern des Ventilators an der Decke ist zu hören. Sekunden später ertönen Schüsse. Cano sinkt zusammen. Ein Motorradfahrer rast davon.

Ganz langsam fangen die Gäste in der Vorstadt von Medellín wieder an zu reden und zu essen. Der Auftraggeber dieses Mordes, der damals ganz Kolumbien erschüttert hat, kommt aus ihrer Stadt, und er ist die Hauptfigur in der Telenovela, die der kolumbianische Sender Caracol TV derzeit jeden Abend ausstrahlt: Pablo Escobar, Chef des einst größten Drogenkartells des Landes. Unter seiner Herrschaft wurde Medellín zur gefährlichsten Stadt der Welt. Ende der 1980er Jahre kamen auf 1.000 Einwohner fast 400 Morde pro Jahr.

„Für uns sind diese Ereignisse noch ganz nah. Wir haben sie alle miterlebt. Es berührt mich sehr, sie nun noch einmal zu sehen“, sagt eine der Restaurantgäste. Chefin Doña Gloria will sich lieber nicht zur Telenovela äußern: „Man weiß nie, wer einem gerade zuhört, und Escobars Familie hat noch immer Einfluss hier.“

Makabre Hauptfigur

Es erscheint grotesk: Der Mann, der jahrelang ganz Kolumbien mit seinen Morden und Bombenanschlägen in Atem gehalten hat, ist seit dem Frühsommer Held einer Fernsehserie – „Pablo Escobar, der Chef des Bösen“. Produziert wird sie ausgerechnet von zwei Menschen, die auch unter Escobar gelitten haben: von Camillo, dem Sohn von Guillermo Cano, und Juana Uribe. Ihre Mutter wurde von Escobars Männern entführt, ihr Onkel Luis Carlos Galán, damals Präsidentschaftskandidat, wurde auf Escobars Befehl hin im August 1989 ermordet.

„Wir dürfen diese Gewalt der Drogenmafia nicht vergessen. Die Jugendlichen müssen davon erfahren. Es gab schon einige Filme über Escobar als Helden, umgeben von schönen Frauen. Wir wollten das anders machen“, sagt Uribe. Sie sitzt in ihrem Büro von Caracol TV. Um dahin zu gelangen, muss man durch eine Sicherheitsschleuse, die strenger ist als am Flughafen von Bogotá: Fingerabdrücke, ein Foto mit biometrischen Merkmalen und Scanner, die den Tascheninhalt durchleuchten. „Ich habe keine Angst. Aber sie haben schon ein paar Radiosender in die Luft gejagt. Deshalb sind wir vorsichtig. Auch mein Auto ist gepanzert“, sagt die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Kanals: „Man weiß ja nie.“

Grundlage der Serie ist das Buch „Das Gleichnis von Pablo“ des kolumbianischen Schriftstellers Alonso Salazar. Die Produzenten haben außerdem Pressearchive durchforstet und mit den Angehörigen der Opfern gesprochen. „Das ist der große Unterschied zu anderen Filmen über Escobar: Wir erzählen nicht nur seine Geschichte, sondern auch die der Opfer. Wir zeigen ihren Schmerz“, sagt Uribe.

Ein paar Tage nach der Ausstrahlung des Mordes an Guillermo Cano habe sie eine E-Mail von seiner Witwe bekommen. „Sie hat sich bedankt, dass die Schauspieler ihrem Mann eine gewisse Würde zurückgegeben haben. Aber sie hat auch geschrieben, dass sie eine Woche lang nicht schlafen konnte, weil sie das alles noch einmal erleben musste.“

Andere Angehörige fänden sogar neuen Mut, sich noch einmal mit der eigenen Familienvergangenheit auseinanderzusetzen, sagt die Produzentin. Die Serie erzählt auch den Mord an einem Staatsanwalt, der gegen Escobar ermittelt hat. Die Frau des Anwalts war damals schwanger. Nun hat seine Tochter Caracol TV kontaktiert: Sie will mehr über den Tod ihres Vaters wissen. „Sie hat ihn nie gesehen. Wir suchen nun für sie nach mehr Dokumenten in den Archiven.“

Von Escobars Familie habe es dagegen kaum Reaktionen gegeben. „Eine Schwester hat sich beschwert, dass ihre Mutter in der Serie zu dick dargestellt werde und zu schlecht angezogen sei. Sie hat uns sogar ein paar Kleider von ihr geschickt. Aber das war bisher alles.“

Die Serie erzählt das Leben von Escobar seit seiner Kindheit. Sie lässt nichts aus: keinen Mord, keinen Anschlag. Sie zeigt, wie brutal Escobar mit Frauen umgegangen ist und wie er Politiker korrumpiert hat. Aber zur Geschichte gehört auch, „dass Escobar in seiner Heimatstadt Medellín Häuser für die Armen gebaut hat“, weshalb er gern Robin Hood genannt werde, sagt Uribe. „Genau aus diesen Vierteln hat er dann auch seine Gehilfen rekrutiert, die für ihn gemordet haben. Wir zeigen, dass die Mütter ihre Kinder verkauft haben, dass das ein perverses System war.“

Anna María Arias Quintero kommt aus einem solchen Viertel, dem Stadtbezirk sechs im Norden von Medellín. Die meisten Häuser hier sind unverputzt, oft ist die obere Etage nicht fertig gebaut. Weil das Geld fehlt. Die 27-Jährige hat den Terror Escobars als kleines Mädchen erlebt. Heute arbeitet sie als Sozialarbeiterin für die Stadt. „Die Serie gefällt mir nicht. Sie macht mir Angst. Es gibt noch immer Drogenhandel hier in Medellín. Ich habe Angst, dass die Gewalt wieder schlimmer wird.“ Sie fürchtet, die Banden von heute könnten sich Escobars Bombenanschläge zum Vorbild nehmen.

Juana Uribe kann solche Befürchtungen nicht nachvollziehen. „Es stimmt: Was wir zeigen, ist keine Geschichte, die abgeschlossen ist. Aber ich glaube nicht, dass die Jugendlichen ihm nacheifern wollen. Dafür ist er viel zu grausam.“

Außerdem hat sich die Situation in Medellín in den vergangenen Jahren verbessert. Die meisten Drogenkartelle sind nach Mexiko abgewandert. Escobar selbst wurde 1993 von einer Eliteeinheit der Polizei erschossen. Geblieben sind kleinere Banden. Die Mordrate ist auf unter 40 pro 1.000 Einwohner jährlich gesunken.

Kritik kommt auch von denen, die aktuell gegen Korruption und Paramilitärs in Kolumbien kämpfen: „Hier wird ein Krimineller Held einer Fernsehserie“, sagt der Anwalt und Menschenrechtler Luis Pérez aus Bogotá. „Diese Serie ist dazu da, Geld zu verdienen – nicht, um ein Denkmal für die Opfer zu schaffen.“

Die Telenovela ist die teuerste Serie, die jemals in Kolumbien produziert worden ist. Jeder Drehtag kostet rund 170.000 US-Dollar. Üblich sind für Telenovelas rund 10.000 Dollar pro Tag. „Escobar ist ein Mythos. Deshalb wollen die Leute das sehen. Und wir sind sehr nah an der Realität. Das beeindruckt die Leute“, sagt Juana Uribe.

Was ist echt, was gespielt?

In der Telenovela wird regelmäßig authentisches Archivmaterial eingesetzt, manchmal mutet sie dadurch wie ein Dokumentarfilm an. „Wir vermischen Fiktion und Realität. Manchmal weiß man nicht mehr, was echt ist und was gespielt wird“, sagt die Produzentin. Alle Fakten seien wahrheitsgetreu in der Serie. Fiktion gäbe es nur dort, wo es keine Zeugen und Dokumente gibt; zum Beispiel wenn es um die Beziehung von Escobar zu seinen Brüdern und seiner Ehefrau geht.

Caracol TV verhandelt inzwischen mit mehreren europäischen Sendern, vor allem in Spanien, Italien und Frankreich, über einen Export der Serie. Wie viel Geld die Serie bereits jetzt in die Kassen ihres Senders spült, will Juana Uribe nicht sagen. Doch das Argument, sie nutze diesen Mythos vor allem, um daran zu verdienen, lässt sie nicht gelten. Schließlich, wiederholt sie, gehöre ihre Familie auch zu den Opfern.

Dass die Serie dennoch nicht zu einem persönlichen Rachefeldzug der Produzenten geworden ist, liegt an der Differenziertheit ihrem Protagonisten gegenüber – die den Zuschauer manchmal beunruhigend ratlos zurücklässt. Denn Pablo Escobar kommt dem Zuschauer nahe. In all seinen Facetten: als Monster – und als liebevolles Familienoberhaupt. Er war wohl tatsächlich beides.