Momente der Entsagung

Lidokino (4): Ang Lee spritzt beim Filmfestival in Venedig dem Western das Melodram ein – „Brokeback Mountain“

„I ain’t queer“, sagt Ennis. „Me neither“, antwortet Jack. Es ist das Jahr 1963, Ennis (Heath Ledger) und Jack (Jake Gyllenhaal) hüten Schafe in den Bergen von Wyoming. Bereitwillig geben sich die Konturen der Landschaft den Panoramatotalen hin, die Kamera freut sich an den Zacken der Gipfel und den Farbschattierungen des Gesteins. Die Schafe laufen so lange durchs Bild, bis dieses zu wimmeln beginnt; gebannt schaut die Kamera den Wolken zu und den beiden jungen Männern auf ihren Pferden.

Ennis und Jack stammen aus Verhältnissen, in denen man viele Worte zu machen nicht gewohnt ist. Das Wenige, was sie über die Lippen bringen, sprechen sie zu unbeholfen aus, als dass es zur Verständigung taugte. Aber sie verstehen sich auch ohne Worte, sitzen am Lagerfeuer, essen Bohnen aus Büchsen, schießen einen Hirsch, als ihnen die Lust an den Bohnen vergeht: ein unbeschwertes Jungmännerdasein. Bis zu der Nacht, in der sie zum ersten Mal beide im Zelt übernachten. Sie fallen übereinander her, und lange weiß man nicht: Ist das Sex? Oder schlagen sie sich?

Am nächsten Morgen hat ein Koyote ein Schaf gerissen. Einen Augenblick verweilt die Kamera auf dem blutverschmierten Leib, als wolle sie das kommende Unglück vorwegnehmen.

Ang Lees Wettbewerbsbeitrag „Brokeback Mountain“ basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Annie Proulx. Der aus Taiwan stammende, seit vielen Jahren in den USA arbeitende Regisseur nutzt die Landschaft und die Figuren des Westerns, um aus ihnen eine Liebesgeschichte zu gewinnen. Die dauert zwanzig Jahre an, doch die Erfüllung bleibt ihr versagt. Ein schwules Paar ist in den 60er- und 70er-Jahren nicht vorstellbar im Westen der USA. Jedenfalls nicht für Ennis, und deswegen heiratet er, kaum dass er die Schafe ins Tal getrieben hat.

Ang Lee konzentriert seinen Film auf dieses Moment der Entsagung. Anders als Todd Haynes, der vor drei Jahren mit „Far From Heaven“ im Wettbewerb der Mostra ein vergleichbares Sujet aufgriff und dabei überdeutlich an die Charakteristika des Sirk’schen Melodrams anknüpfte, liegt Lee an einer Genre-Kreuzung: Er spritzt dem Western das Melo ein.

„Brokeback Mountain“ widmet sich weniger den glücklichen, ausgelassenen Momenten, die Jack und Ennis erleben, er interessiert sich mehr für die Frustration zwischen den Begegnungen, für die Kränkungen, die Jack von seinem Schwiegervater erfährt, für die desolate finanzielle Lage Ennis’, der es nie weiter als bis zum Landarbeiter bringt.

Sprachlosigkeit herrscht zwischen Ennis und seiner Frau, unfähig ist er, einen Konflikt anders zu lösen denn durch Faustschläge.

Eine Silvesterfeier im Freien legt davon Zeugnis ab: Ennis sitzt mit seiner Frau und den beiden Kleinkindern auf einer Wiese. Zu ihnen gesellen sich zwei Rednecks, sie klopfen vulgäre Sprüche, es dauert fünf Sekunden, und Ennis schlägt sie nieder. Die Sequenz wird von einer Totalen beschlossen: Ennis steht links, das Feuerwerk beherrscht den oberen Bildrand, rechts hält die Frau die schreienden Töchter im Arm. Ein starkes Bild für die Isolation und die Hilflosigkeit von Lees Figuren.

Wie an dieser Stelle schon spekuliert, stammt der diesjährige Überraschungsfilm tatsächlich von Takeshi Kitano. „Takeshi’s“ lautet der Titel, der Film ist eine fröhliche Collage aus Kitanos gesammeltem Kino- und TV-Schaffen. Einen konzisen Plot gibt es nicht, dafür viel Nonsens und viele Schießereien, viele Jokes und viele Film-im-Film-Ebenen. Denn als Angelpunkt von „Takeshi’s“ dient ein Fernsehstudio, in dem ein Film mit Takeshi Kitano in der Hauptrolle gedreht wird.

Unerwartet taucht dann aber ein zweiter Takeshi Kitano auf, zunächst in Gestalt eines traurigen Clowns, dann als Unglücksrabe, als Verkäufer in einem Lebensmittelladen und erfolgloser Statist. Der erfolgreiche Kitano ist dunkelhaarig, der andere blond wie der Samurai in „Zatoichi“. Fortan gibt es viel Raum für Verwechslung. „Takeshi’s“ recycelt sich dabei selbst, insofern bestimmte Motive – eine Raupe im Blumenstrauß, eine Schüssel Nudelsuppe, das Zählen von Geldbeträgen – immer wieder auftauchen. Und auch bei den Figuren ist von einem Recycling zu sprechen: So viele Tote die Schießereien auch fordern mögen, die blutüberströmten Figuren stehen einfach wieder auf, um in der nächsten Szene erneut die Waffe zu recken. CRISTINA NORD