berliner szenen
: Sein Berlin-Code ist abgelaufen

Nach zwei Stunden meint er, dass er los müsse und die nächsten Tage voll seien

Berlin strenge ihn an, erzählt ein einst enger Freund, der seit längerem in China lebt, und meint: „Früher konnte ich die Menschen einordnen. Ich wusste einfach, ob jemand aus Reinickendorf oder aus Hellersdorf stammt.“ Mittlerweile, meint er, könne er auf der Straße nicht mehr unterscheiden, wer arm ist und wer reich, nicht mehr erkennen, ob jemand Tourist, Neuberliner oder Alteingesessener sei: „Es ist, als sei mein Entschlüsselungscode für die Stadt abgelaufen.“

Ich lächle und nicke. Insgeheim aber denke ich, dass es mir mit ihm ergeht wie ihm mit Berlin: Obwohl er noch der gleiche Mensch ist, ist mir der Entschlüsselungscode für ihn in den vergangenen Jahren anscheinend abhandengekommen. Sieht er mich etwa entsetzt an? Findet er mein Schwärmen für meine Tochter so abstoßend, dass er sich gerade fragt, wie ich so enden konnte? Oder bilde ich mir das ein? Und sieht er nur angespannt aus, weil er konzentriert zuhört?

Ich spreche ihn auf seinen Gesichtsausdruck an. Er meint mit dem gleichen abwertend wirkenden Ausdruck: „Das hört sich doch alles sehr gut an bei dir.“ Ich unternehme einen letzten Versuch, die alte Nähe zwischen uns wiederherzustellen, und sage: „Nicht, dass du denkst, ich wolle vor dir das perfekte Leben inszenieren. Ich bin heute einfach sehr glücklich. An anderen Tagen würde ich mich ganz anders anhören. Vor paar Tagen hätte ich sicher geklagt, wie wenig sich Arbeit und Mutterschaft vereinbaren lassen.“ Er verzieht keine Miene.

Der Abschied fällt uns beiden nicht schwer. Nach nur zwei Stunden meint er, dass er los müsse und seine nächsten Tage bereits sehr voll seien. Ich verabschiede mich hastig, freue mich, noch Zeit zu haben, alleine durch die Stadt zu flanieren, und denke: Wenigstens Berlin und ich sind trotz langer Trennung noch so eng wie eh und je. Eva-Lena Lörzer