Ein Wiedersehen in Auschwitz

„Der letzte Jolly Boy“ von Hans-Erich Viet ist ein dokumentarischer Roadmovie mit dem Holocaust-Überlebenden Leon Schwarzbaum. Die Premiere ist am Samstag auf dem 29. Filmfest Emden-Norderney

Am Ort des Verbrechens: Leon Schwarzbaum mit einer Gruppe von israelischen Schülerinnen in Auschwitz-Birkenau Foto: Filmstill

Von Wilfried Hippen

„Das war hier“, sagt Leon Schwarzbaum auf einem Stück Schotterweg neben Bahngleisen in dem polnischen Städtchen Bedzin. Ein nichtssagender Allerweltsort, bis Leon davon zu erzählen beginnt, wie er genau dort zusammen mit anderen Juden zu den Eisenbahnwagons getrieben und dann nach Auschwitz gefahren wurde. Und gerade weil dies alles andere als ein musealer Erinnerungsort ist, wirkt diese Aufnahme so unmittelbar und erschütternd.

In einer späteren Szene betritt er eine der Holzbaracken in der Gedenkstätte Auschwitz und zeigt auf eine Stelle in der obersten Lage der Holzpritschen: „Ich schlief da oben“, sagt der Über-90-Jährige und versucht tatsächlich, dort hinaufzuklettern, bis er merkt, dass seine Kräfte dafür nicht mehr ausreichen. Zu siebt hätten sie dort in einer Reihe gelegen „wie die Heringe“.

Es gibt eine ganze Reihe von Dokumentationen, in denen Holocaust-Überlebende über ihre Erlebnisse in den Ghettos und Vernichtungslagern Zeugnis ablegen. Und in den meisten davon erzählen die Protagonisten im Stil der „oral history“ ihre Geschichten direkt in die Kamera. Der Filmmacher Hans-Erich Viet hat einen anderen Ansatz gefunden, und dadurch bekommt sein Film eine ganz eigene, sowohl poetische wie auch visuelle Qualität.

Er ist mit Leon Schwarzbaum auf Reisen gegangen und hat mit ihm einen Roadmovie gedreht. Drei Jahre lang hat er ihn auf verschiedene Exkursionen begleitet: Zuerst war nur eine Fahrt an die Orte seiner Vergangenheit geplant, aber dann ergaben sich, wie auf einer guten Reise üblich, Gelegenheiten für Abstecher: So wurde er dazu eingeladen, vor Insassen des Gefängnisses Zeithain in Sachsen zu sprechen und er war Gast in einer Talkshow des ZDF-Moderators Markus Lanz.

Leon Schwarzbaum, Jahrgang 1921 wurde in Hamburg geboren, aber aufgewachsen ist er in Polen. Als junger Mann sang er für eine kurze Zeit in einem A-Capella-Quartett amerikanischen Swing im Stil der Mills Brothers: „Ihr wart eine Boy Group“, neckt Veit ihn einmal. Aber die Jolly Boys hatten 1939 nur einen einzigen Auftritt im Radio.

Dann marschierten die Deutschen in Polen ein und Leon kam zuerst ins Ghetto und wurde dann nach Auschwitz deportiert, wo er zwei Jahre lang überlebte. Er wurde in ein Außenlager überstellt, wo er für die Firma Siemens Zwangsarbeit leistete: „Siemens hat mir das Leben gerettet“, sagt er dazu – auf dem Gelände der damaligen Fabrik.

Schwarzbaums gesamte Familie kam in Auschwitz um: 35 Menschen, wie auch fast alle anderen Juden der Gemeinde, mit denen er aufgewachsen ist. Ob er den Deutschen das verzeihen könne, wird er von einem Polen gefragt und sein knappes „Nein!“ ist einer der erschütternden Momente in diesem traurigen Film, denn dieses Urteil wirkt wie ein Schock bei dem so sanftmütig und höflich wirkenden Mann.

Bei dem letzten SS-Prozess in Detmold gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning war Schwarzbaum einer der Zeugen. Dort überreicht er einen Brief, in dem er Hanning mit Sätzen wie „Vor Gott werden Sie die Wahrheit sagen müssen, die Sie uns hier im Prozess vorenthalten haben!“ ins Gewissen redet. In Polen sucht und findet Schwarzbaum das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Er erkennt noch das alte Geländer an der Treppe und sagt: „Dies war mein Zimmer.“ In seinem alten Gymnasium versucht er die Urkunde seines Abiturs zu bekommen, scheitert aber an der polnischen Bürokratie.

Viet zeigt auch kleine Fundstücke von ihrer Reise wie das Kino, in dem der junge Schwarzbaum Stammgast war und in dem nun ausgerechnet die deutsche Komödie „Oh Boy“ auf dem Programm steht. Und wenig später verrenkt Schwarzbaum dann am Grenzzaun von Auschwitz seine Glieder, um zu zeigen wie dort die von Stromschlägen getöteten Leichen hingen.

Daran, dass der Film gemacht wurde, schien kaum jemand Interesse zu haben: Es gebe inzwischen genug Filme mit Zeitzeugen des Holocaust

Beides, die friedlichen Reise­impressionen und die schrecklichen Erinnerungen sind Teil von Schwarzbaums Leben, und genau dies bringt er bei einem Spaziergang über den festlich beleuchteten Kuhdamm auf den Punkt, wenn er sagt: „Wenn ich das hier sehe und mit meinem Aufenthalt in Auschwitz vergleiche, dann sind da nicht eine, sondern zehn verschiedenen Welten dazwischen.“

Der 1953 in Ostfriesland geborene Hans-Erich Viet hat in der selben Klasse wie Detlev Buck Film studiert und in dessen Langfilmdebüt „Karniggels“ Ko-Regie geführt sowie eine der Hauptrollen gespielt. Er selber inszenierte dann vor allem Spielfilme wie „Frankie, Johnny und die anderen“ und viele Folgen der Krimiserie „Polizeiruf 110“. Seine Karriere begann er 1991 mit der Dokumentation „Schnaps im Wasserglas“ über Landarbeiter im ostfriesischen Rheiderland, für die er gleich den Grimme-Preis erhielt.

Daran, dass „Der letzte Jolly Boy“ überhaupt gemacht wurde, schien kaum jemand Interesse zu haben. Er wurde zwar von der Nordmedia gefördert, aber die großen Fernsehanstalten lehnten alle ab, ihn mit zu finanzieren und dann in ihre Programme zu nehmen.

Die Redakteure gaben Viet zu verstehen, dass es inzwischen genug Filme mit Zeitzeugen des Holocaust gebe. Schließlich gab es nur ein wenig Geld vom kleinen RBB und dies auch nur wegen des Lokalbezugs, denn Schwarzbaum lebt in Berlin. Viet hat bislang auch noch keinen Verleih für die Kinoauswertung gefunden, sodass es alles andere als sicher ist, ob der Film in die Kinos kommt.

Die Premiere beim Internationalen Filmfest Emden/Norderney ist am Samstag um 19 Uhr und natürlich ist der inzwischen 97-jährige Leon Schwarzbaum als Gast dabei. Wiederholungen gibt es am Sonntag und Montag