Müssen Politiker im Wahlkampf immer die Wahrheit sagen?
Ja

MORAL Obama gegen Romney, Steinbrück gegen Merkel. Politiker versprechen viel, weil sie Stimmen brauchen. Manchmal übertreiben sie

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Glenn Kessler, 53, schreibt bei der Washington Post die Kolumne The Fact Checker

Die Kunst der Politik ist Überzeugungsarbeit. Politiker müssen Menschen davon überzeugen, sie zu wählen. Im Amt müssen sie Unterstützer für ihre Ziele sammeln und die besten Argumente für ihre Ansichten finden. Politiker werden dabei immer die Wahrheit strecken, wenn sie glauben, dass es ihren Zielen dient. Ich bewerte Aussagen von Politikern auf einer Skala von einem bis vier Pinocchios. Politiker sollten die eklatantesten Falschaussagen – drei bis vier Pinocchios – vermeiden, weil es ihre Glaubwürdigkeit beschädigt, wenn die Lüge allzu offensichtlich ist. Ein komplett ehrlicher, wahrhaftiger Politiker ist wohl unrealistisch. Aber Wähler sollten Politiker für Falschaussagen zur Rechenschaft ziehen und diejenigen belohnen, die auch harte Wahrheiten aussprechen. Mit der Zeit wird das das Verhalten von Politikern verändern.

Jürgen Weibler, 52, ist Herausgeber des Buchs „Obama und die Macht der Worte“

Sofern der Politiker nicht als integer und authentisch wahrgenommen werden möchte, sofern er das Volk für unmündig hält und deshalb vorsorglich an seiner statt entscheiden möchte, sofern er seine eigene Sicht der Welt für die einzig mögliche Sicht zur Welt ansieht, deshalb Kommunikation als Strategie und nicht als Diskurs erachtet und überhaupt Fragen von Ethik und Moral zwar von ihm vorgetragen, aber nicht gelebt werden wollen, ja dann ist Wahrheit eine irrelevante Kategorie für ihn – und dann muss er auch nicht immer die Wahrheit im Wahlkampf sagen.

Gesine Palmer, 52, ist Religionsphilosophin und arbeitet als Autorin politischer Reden

Politiker sollen die Interessen der Bürger eines Landes notfalls gegen Wirtschaftsverbände oder Verkrustungen in den Verwaltungen durchsetzen. Wähler sind auf redliche, wahrhaftige Informationen angewiesen. Das heißt: Rhetorik, die den Interessen dient, für die jemand sich einsetzt, gehört zum Wahlkampf. Begründete Zweifel an dem, was andere als Wahrheit behaupten, gehört zum Wahlkampf. Die Abwehr falscher Verdächtigungen gehört dazu wie die Formulierung von Ansprüchen, deren Realisierung mindestens wenig wahrscheinlich ist. Auch in der Politik ist niemand verpflichtet, über private Belange Auskunft zu geben. Aber Politiker dürfen nicht Lügen verbreiten und Fakten vertuschen.

Dagmar Wöhrl, 58, sitzt seit 1994 für die CSU im Deutschen Bundestag

Politiker sollen immer die Wahrheit sagen – nur gibt es keine absolute Wahrheit. Schon gar nicht in der Politik. Eine Information kann zu völlig unterschiedlichen Bewertungen führen. Man schaue sich die unterschiedliche Bewertung des Armutsberichts an oder den Wahlkampf 2005, in dem Merkel ehrlich sagte, dass es ohne Mehrwertsteuererhöhung nicht gehe. Die SPD bestritt das, der Rest ist Geschichte. Mit Politik kann man Wahlen verlieren, selten gewinnen. Henry David Thoreau schrieb: Zur Wahrheit gehören immer zwei – einer, der sie sagt, und einer, der sie versteht. Ich ergänze: Die Wahrheit ist selten so oder so, meistens ist sie so und so.

Nein

Mathias Richling, 59, ist einer der berühmtesten Kabarettisten Deutschlands

Der Wähler erwartet gerade im Wahlkampf die Lüge. Schon, weil sich unser ganzer Staat auf der Lüge aufbaut: Alle haben ein Recht auf Arbeit, alle Menschen sind gleich, jeder hat ein informationelles Selbstbestimmungsrecht – was hat das für einen Wahrheitsgehalt? Die Kunst besteht in der Verfeinerung der Lüge. Wir erinnern uns an den Bundestagswahlkampf 2005, als Frau Merkel eben nicht sagte, sie würde nach der Wahl keine Erhöhung der Mehrwertsteuer umsetzen. Sondern sie wolle künftig statt 16 Prozent 18 Prozent einführen. Nach der Wahl waren es dann aber 19. Es war so haarscharf verlogen, dass man es als Wahrheit gelten lassen und dennoch nicht behaupten konnte, man wäre enttäuscht worden, weil man keine Lügen mehr aufgetischt bekommen hätte.

Uwe Roos ist Coach. Er hat die Streitfrage auf der taz-Facebook-Seite kommentiert

Die Frage impliziert die Unterscheidung zwischen einer politischen und gesellschaftlichen Wahrheit. Von Politikern erwarten wir eine unabdingbare Wahrheit, die wir selbst niemals erfüllen können. Wir erschaffen so einen artifiziellen Raum. Psychologisch betrachtet, würde es mit einem holistischen Weltbild unsere Zivilisation nicht geben.

Carmen Dege, 30, promoviert derzeit in Politischer Theorie an der Yale University

Stellt man Politikern die Aufgabe, nicht zu lügen, ist darin auch eine moralische Instanz eingeschlossen: der Politiker als der allumfassend Wissende, der das Volk vom Wahren unterrichtet. Dennoch: Schon Platon räumt Politikern das Recht zum Lügen ein, so sie dies im Interesse des Staates tun. Aus dieser Perspektive ist die Lüge nicht mehr nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit zu befragen, sondern welchen Schichten oder Interessengruppen sie dient oder schadet. Was immer der Politiker entäußert, ist zunächst nicht Wahrheit oder Lüge, es ist Meinung. Ist alles, was gesagt wird, schlicht wahr, wird der Bürger seines mündigen Urteils beraubt, er ist nicht mehr in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, sondern nurmehr der, der arbiträr aus kaum unterscheidbaren Angeboten wählen muss.

Udo Röbel, 62, war Bild-Chefredakteur und schreibt Krimis („Der rote Reiter“)

Wie viele Wahrheiten gibt es überhaupt? In einer Welt, die immer unüberschaubarer wird? Und welcher Politiker maßt sich an, sie zu kennen? Eine Wahrheit ist: Die USA haben über 16 Billionen Dollar Schulden, die sie nie zurückzahlen werden können. Obama und der Multi-Millionär Romney wissen das. Doch aus ihrem Mund werden wir das nie hören. Genauso, wie Merkel und Steinbrück um die Wahrheit wussten, als sie Anfang Oktober 2008, auf dem Höhepunkt der Lehman-Krise, versicherten, die Spareinlagen der Deutschen seien sicher. Die Wahrheit war, dass damals ein Run auf Banken drohte und bereits 200- und 500-Euro-Scheine knapp wurden. Hätte die Wahrheit nicht erst recht einen Sturm auf die Banken ausgelöst? Fazit: Politische Wahrheiten sind fast immer „bittere Wahrheiten“. Und mit denen wurden noch nie Wahlen gewonnen. Nur mit (vielleicht auch ernst gemeinten) Versprechungen?