Suchen nach Anerkennung: „Wie kommt man an ein Königreich?“
Bereits mit 14 wusste Ellen Esser, dass sie Schauspielerin werden wollte – so wie Romy Schneider. Nun hat sie mit 75 ihren Debütroman veröffentlicht.
taz: Frau Esser, müsste man Sie kennen?
Ellen Esser: Nein. Na ja. Ich habe viel gemacht, aber wirklich bekannt bin ich noch nicht geworden. Das kommt vielleicht jetzt.
Dann fangen wir doch mit einer Art Fragebogen an. Alter?
Muss ich das wirklich sagen?
Ja klar, das ist doch spannend. Fragt Sie das etwa keiner mehr?
Doch, manchmal. Ich bin jetzt 75. Wahnsinn.
Ihr Beruf?
Jetzt kann ich es endlich sagen: Schriftstellerin. Bevor das Buch erschienen ist, hätte ich mich das nicht getraut, obwohl ich schon lange schreibe.
Die Frau Ellen Esser, Jahrgang 1942, wächst in Zehlendorf in einer Schauspielerfamilie auf. Nach der Schauspielschule spielt sie in den 1960ern und 1970ern vor allem am Staatstheater Bremen und an der Freien Volksbühne Berlin – unter anderem unter der Regie von Peter Zadek und Claus Peymann. In ihren Dreißigern holt sie das Abitur nach, fängt ein Studium an, spielt immer wieder auch am Theater und im Film. Später schreibt sie Stücke und inszeniert sie, veranstaltet szenische Lesungen im Tacheles, fängt an zu malen und widmet sich schließlich der Prosa. Ellen Esser hat zwei Töchter und lebt in Schöneberg.
Der Vater Paul Esser (1913–1988) war Schauspieler und gründete 1963 das Hansa-Theater in Moabit. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er als Ganove in den „Pippi Langstrumpf“-Filmen. Anfang der 1980er verkaufte er das Hansa-Theater, das nun abgerissen werden soll. Ellen Esser kam als Mädchen für alles und als Darstellerin am Theater ihres Vaters zum Einsatz.
Das Buch In diesem Jahr veröffentlichte Ellen Esser ihren ersten Roman „Das Zeitlabyrinth“ im Selbstverlag.
Davon leben Sie?
Nein. Ich habe mich bis zu meinem 61. Lebensjahr mehr oder weniger gut durchgeschlagen. Dann habe ich geerbt und lebe jetzt davon, Wohnungen zu vermieten. Das ermöglicht es mir, zu schreiben ohne finanziellen Druck.
Wo sind Sie aufgewachsen?
In Zehlendorf, am Schlachtensee. Ich bin in die Welt des Schauspiels hineingeboren. Mein Vater, Paul Esser, war ein bekannter Schauspieler in Berlin, meine Mutter war eigentlich auch Schauspielerin. Sie hat aber aufgehört, weil sie die Hände im Spiel immer so verkrampft hat. Sie hat sich dann ins Familienleben gestürzt. Zu Hause hat sie immer meinen Vater abgehört, der konnte sich Texte schlecht merken. Die ganze Familie hatte die drauf, bevor er sie konnte.
Es war dann klar, dass Sie auch Schauspielerin werden?
Als ich vierzehn war, habe ich „Mädchenjahre einer Königin“ mit Romy Schneider im Kino gesehen. Ab da war klar, dass ich auch Schauspielerin werden muss. Ich dachte, dass ich dann werde wie Romy Schneider. Typ Liebhaberin. Das war auch die einzige Art Schauspielerin, die mein Vater toll fand. Und ich wollte gern so sein, wie mich mein Vater wollte.
Hat das geklappt?
Ich bin mit 17 Jahren zur Schauspielschule, hatte danach das erste Engagement in Verden an der Aller, ein niedersächsisches Provinztheater. Das war so abartig schlecht, dass wir einfach nur gelacht haben auf der Bühne. Irgendwann sind wir mit dem ganzen Ensemble nach Bremen, um mal was Richtiges zu sehen. Das war „Die Geisel“ in der Inszenierung von Peter Zadek. Da ist man vor Begeisterung fast in Ohnmacht gefallen. Es gab eine halbe Stunde Applaus, bis dann eine Ansage kam, man solle doch mal die Mäntel abholen, damit die Garderobenfrauen nach Hause gehen können. So antiautoritär, so frech war das. Da wollte ich hin und hab mich beworben.
Bei Peter Zadek, dem legendären Theaterregisseur.
Ich hatte dem sogar schon mal vorgesprochen, in Zeiten der Schauspielschule. Damals habe ich aber gefremdelt, so jemanden wie den kannte ich vorher nicht. Ich habe mich dann aber noch mal beworben und gehofft, der erinnert sich nicht. Der erinnerte sich aber sehr wohl und wollte mich deshalb noch mal sehen. Dann bekam ich tatsächlich ein Angebot. Und ich dachte „Juchhu“ und kaufte mir das Textbuch zum Stück, und dann steht da „Flipote bekommt eine Ohrfeige“. Das sollte meine Rolle sein. Eine stumme Rolle, das ist ja gar keine Schauspielerei. Ich bin dann trotzdem nach Bremen gegangen, weil ich gehört hatte, man würde bei Zadek nicht auf solche kleinen Rollen festgelegt.
Und?
Es wurde besser. Ich war dann Regieassistentin, habe bei „Frühlings Erwachen“ die Martha gespielt, das war überhaupt meine Lieblingsrolle. Und ich fand den Zadek so toll, ich bin bei ihm zu Hause ein- und ausgegangen. Ich war zwar zwischendurch noch einmal in Berlin bei meinem Vater am Hansatheater als Mädchen für alles. Aber Bremen und Zadek waren über zehn Jahre mein Zuhause und meine künstlerische Liga. Da ging es um Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit, um Qualität. Ich bin heute sehr dankbar, das erlebt zu haben. Aber auch bei Zadek habe ich nie die Hauptrolle gespielt. Das, was ich eigentlich wollte mit der Schauspielerei, das hat nicht geklappt.
Ganz vorne stehen und gesehen werden?
Jawoll. Ich habe nur die Nutten, Kinder und Dienstmädchen gespielt. Ich konnte blind die Kittelschürze aus dem Fundus aussuchen.
Das war Ihnen nicht genug?
Ich halte mich für begabt. Aber Talent – das reicht doch nicht. Ich wollte mich abarbeiten, ich wollte Herausforderungen. Große Rollen. Aber ich habe die Rollen der Sexbomben bekommen, weil ich für den Typ Liebhaberin zu vollbusig war. Ich war aber auch zu schüchtern, um mehr einzufordern. Ich komme aus einer patriarchalischen Familie, und das Theater ist eine total patriarchalische Welt, auch heute noch. Erst kurz bevor Zadek gestorben ist, da war ich schon über 60, da hat der mal was Freches zu mir gesagt, und ich habe erwidert: „Das hat mir jetzt aber was ausgemacht.“ Vorher hätte ich mich das nicht getraut, da bin ich eher weggelaufen.
Zu schüchtern, um Hauptrollen zu fordern – was haben Sie stattdessen gemacht?
Ich bin mit 29 vom Theater abgegangen, um selbst der Mittelpunkt meines Lebens zu werden. Vorher war ich ja nur ein Teil des Lebens von Peter Zadek.
Sie hätten an ein anderes Theater gehen können.
Ja, ich hatte viele tolle Angebote, von Fassbinder oder am Schauspiel Frankfurt, und später habe ich auch in Berlin an der Schaubühne gespielt. Aber die Rollen blieben gleich. Heute bin ich großer Fan vom Maxim Gorki Theater, dort gibt es eine große Bandbreite im Ensemble, jeder ist wichtig und kann untypisch besetzt werden. Das ist das Theater, das ich damals gebraucht hätte. Damals gab es aber nicht einmal die Stücke, bei denen ich dachte, das bin ich, das will ich unbedingt machen.
Also haben Sie einen ganz anderen Weg eingeschlagen?
Mein Bruder hatte mir dann erzählt, dass man in Berlin Bafög bekommt, wenn man das Abitur nachmacht. Das habe ich dann gemacht. Das war voll irre. Ich kannte ja vorher nur Schauspieler, und dort waren alle so normal. Da war ich der bunte Hund. Ich wurde dann aber tatsächlich auf der Straße für den Film entdeckt, weil ich so einen auffälligen Hut trug. Der erste Film war Robert von Ackerens „Harlis“. Ich wollte erst gar nicht, ich war ja gerade vom Theater weg. Aber dann war das ein guter Kontrast zur Schule, die waren ja alle voll durchgeknallt bei diesem Film.
Aber auch da gab es keinen Durchbruch.
Die haben mich von jemand anderem synchronisieren lassen. Unverschämt. Ich habe dann meinen Mann kennengelernt, der mit Schauspielerei nichts zu tun hatte. Wir sind zwei Jahre auf Weltreise gegangen, dann kamen die Kinder, und ich habe zwar doch noch gespielt, vor allem aber angefangen, selbst Theaterstücke zu schreiben und aufzuführen. Aber die kamen bei den Männern nicht an. Ich weiß noch, wie eine Freund damals sagte: „Was macht die Ellen da eigentlich für komische Stücke?“
Was waren das für Stücke?
Stücke über Frauenthemen. Damals ging es ja im Theater fast ausschließlich um Männerthemen, um Macht und Allgemeines, die Vereinsamung des Kleinbürgers. Mir ging es aber um das Persönliche: um die Selbstsuche, die Selbstzweifel der Frauen, die Doppelbelastung.
Das war doch aber eine Zeit der Emanzipation.
Das war Ende der 1980er. Damals gab es in Berlin die erste rot-grüne Regierung, da war Anke Martiny Kultursenatorin. Und ich habe gedacht: Sagenhaft, jetzt kommen wir Frauen dran. Aber das wurde ja nichts.
Warum denn nicht?
Kurz darauf kamen die Wiedervereinigung und mit ihr die vielen CDU-Wähler. Da spielte das dann keine Rolle mehr. Im Theater schon gar nicht. Und schauen Sie mal heute: Wie viele Regisseurinnen, Autorinnen und Intendantinnen gibt es denn?!
Immerhin haben Sie eigene Stücke geschrieben, statt sich in einem Ensemble unterzuordnen.
Ja, da war ich schon mal näher an mir dran, selbstbestimmter. Ich habe dann im Tacheles szenische Lesungen aufgeführt. Aber die Stücke, die ich rausgesucht habe, die fand immer kein anderer gut. Wirklich wahr.
Ihr Vater hatte doch damals mit dem Hansa-Theater ein eigenes, recht großes Theater in Berlin.
Ich habe mal ein Stück gemacht, ein Märchen, in dem der Vater seiner Tochter nicht das Königreich geben will. Er sagt immer: Du musst erst heiraten. Und sie sagt: Wieso, ich erbe doch das Königreich. Und er sagt: Nein, bei uns herrscht männliche Erbfolge. Und sie fragt sich: Wie kommt man bloß an ein Königreich? Also besiegt sie einen Drachen und befreit eine Prinzessin. Und dann herrscht voll das Chaos. Einen Prinzen gibt es auch noch. Am Ende leben alle auf dem Schloss, in einer Art Wohngemeinschaft. Und die kämpferische Prinzessin konnte fürs Kämpfen zuständig sein.
Das sind Sie.
Ich selbst habe das Königreich nie bekommen. Mein Vater hat mich im Hansa-Theater nie etwas Eigenes machen lassen und mir das Theater am Ende auch nicht angeboten.
Inzwischen sollen dort neue Wohnungen gebaut werden, der Abriss steht an. Schmerzt Sie das?
Nein. Mich hat nur geschmerzt, dass ich mich dort überhaupt nicht ausprobieren konnte. Was allerdings auch wahr ist: Solche Schwänke wie im Hansa-Theater, also Volkstheater zu inszenieren – dafür bin ich überhaupt nicht geeignet. Ich hätte das wieder nur so machen können, dass die Leute, die solches Theater sehen wollen, denken, die hat nicht alle Tassen im Schrank.
Haben Sie je bereut, dass Sie damals die progressive Theaterwelt des Peter Zadek verlassen haben?
Nie. Es ist doch so: Zadek gehörte zu den ersten Regisseuren, die geschaut haben, was bringen die Leute mit. Das war seine große Kraft. Er ist den Impulsen seiner Schauspieler gefolgt. Das war für mich der Anfang. Und der erste große Schritt, auf meine eigenen Impulse zu hören, war der Abgang vom Theater. Natürlich war das eine Art Ausweichen, weil ich nicht selbstbewusst genug war, mich in der Institution durchzusetzen. Aber vor allem ging es darum, meine eigenen Inhalte umzusetzen. Dieser Lebensweg hat mich mein eigener Mittelpunkt werden lassen. Heute bin ich nicht mehr schüchtern und bekomme dafür unglaublich viel Positives zurück.
Jetzt haben Sie mit 75 Ihr erstes Buch veröffentlicht, einen Roman. Haben Sie nie gedacht, eigentlich bin ich doch zu alt für was Neues?
Nein, so denkt man doch als Kreative nicht!
Wie wichtig ist Ihnen heute noch der Erfolg?
Sehr wichtig. Diese Sichtbarkeit, die ich als Schauspielerin und mit meinen eigenen Theaterstücken nicht geschafft habe, die will ich jetzt mit dem Buch schaffen. Das ist mein Ziel.
Worum geht es?
Es geht um die erfolgreiche Marie, die von ihrem dominanten Vater in jeder Hinsicht in Beschlag genommen wird. Er duldet keine anderen Männer neben sich, und im Beruf mischt er sich ein. Denn obwohl sie sich mit einem Start-Up selbstständig gemacht hat, vermittelt er ihr lukrative Kunden und treibt sie zu Höchstleistungen an. Als Marie eines Tages schwer krank wird, bricht das wacklige System zusammen. Im Laufe des Buchs erkennt man, was die Ursache dafür ist, dass Marie sein ganzer Stolz ist und ihr Bruder Ulf von ihm abgelehnt wird. Sie versucht mit einer Rückführungstherapie das Geheimnis um diese Familie zu entschlüsseln.
Sie haben es im Selbstverlag herausgegeben.
Ich habe das Manuskript an viele Verlage und Literaturagenten geschickt. Ich glaube, die haben es nicht einmal gelesen. Aber ich habe auch überhaupt nicht gewusst, wie es auf dem Buchmarkt läuft. Beim nächsten Buch mache ich das besser. Das habe ich zur Hälfte schon fertig. An einem weiteren arbeite ich auch schon zwei Jahre. In allen geht es um die Vatersuche. Wenn ich mit dieser Trilogie Erfolg habe, habe ich es geschafft.
Sie meinen, endlich doch berühmt werden?
Ach Quatsch. Berühmt ist Paris Hilton. Berühmt kann man auch durchs Dschungelcamp werden. Ich habe das Gefühl, als hätte ich bisher geübt, um mit der Prosa jetzt das ausdrücken zu können, was mir inhaltlich wichtig ist. Damit möchte ich gesehen werden.
Das will ich genauer wissen: Was muss passieren, damit Ellen Esser sagt, das ist es, was ich mir immer gewünscht habe?
Bis jetzt ist es ja so, dass ich immer ackere und kämpfe. Aber wenn plötzlich die Menschen auf mich zukommen würden und sagen, wir wollen, dass Sie zu einer Lesung kommen, wir wollen das hören – das wäre es!
Was versprechen Sie sich davon?
Man könnte sagen, das ist etwas Unerfülltes. Und es fühlt sich immer schön an, wenn eine Sehnsucht erfüllt wird.
… die Sehnsucht der 14-Jährigen, die sein will wie Romy Schneider?
Es geht doch im Leben darum, sich in allen Bereichen zu erfüllen. Ich habe seit sechs Jahren zum ersten Mal einen Partner, der mich wirklich schön findet und mit dem ich eine erfüllte Beziehung auf Augenhöhe führe. Finanziell bin ich auch zum ersten Mal so abgesichert, das ich frei arbeiten kann. Jetzt fehlt noch die Anerkennung für die künstlerische Arbeit. Aber es stimmt, im Grunde ist das noch die gleiche Energie, die mich mit 14 angetrieben und auf diesen ganzen Weg gebracht hat.
Was ist, wenn auch das Buch diese Anerkennung nicht bringt?
Das ist eine überraschende Frage. (Schweigt kurz) Ich glaube aber, ich werde es so lange versuchen, bis ich sterbe.
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