Nuancieren und strafen

Deutsches Theater: Der tschechische Regisseur Dušan David Parizek macht aus Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ einen Erzähltheater-Abend

Eigentlich beginnt alles recht beiläufig: Drei Zöglinge einer Militärerziehungsanstalt – Törleß (Alexander Khuon), Beineberg (Gabor Biedermann) und Reiting (Niklas Kohrt) – treten an die Rampe und unterhalten sich über eine kleine Verfehlung ihres Mitschülers Basini (Jiři Černý): Er hat Beineberg Geld gestohlen. Was sich letztlich aus diesem Gespräch entwickelt, ist so etwas wie ein Lehrstück über die Geburt faschistoider Strukturen aus dem Geiste der pubertierenden Clique: Die Jungen beschließen, den Delinquenten zu bestrafen, indem sie ihn demütigen, quälen, foltern.

Einen höchst minimalistischen Erzähltheater-Abend hat der tschechische Regisseur Dušan David Parizek aus Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ gemacht, mit denen die Kammerspiele des Deutschen Theaters jetzt die neue Saison einläuteten: Über weite Strecken der 75-minütigen Inszenierung, die er aus dem schlappe 200 Seiten umfassenden Roman destilliert hat, stehen oder sitzen die Schauspieler an der Rampe und sprechen dichte, komplexe Musil-Sätze ins Publikum. Und man versteht schnell: Nicht um vordergründige Schockeffekte angesichts körperlicher Torturen geht es, sondern um den hintergründigen Sadismus, das Gewaltpotenzial, das in den Fantasien wühlt – vorgetragen als analytisches Gedankenspiel.

Alles gut gedacht und theoretisch nachvollziehbar – nur leider eben wenig dramatisch. Lediglich zweimal werden Gewalt und Sadismus unmittelbar körperlich ausagiert, werden die sexuell konnotierten Unterdrückungsfantasien in szenische Bilder übersetzt: Zum ersten, wenn Beineberg den Kopf des nackten Basini auf einen Overhead-Projektor drückt und das Opfer ihn dort in einem von dem Schauspieler Jiří Černý großartig gespielten, fast pragmatischen Gehorsam minutenlang liegen lässt. Und ein zweites Mal, wenn Törleß – hin und her geworfen zwischen Faszination und Verachtung, zwischen Beobachtung und Teilnahme am Geschehen, zwischen Gruppenzwang und seiner sensibel gehegten Individualistenseele – Basinis Kopf so lange in einen Wassereimer taucht, bis man tatsächlich um den strapazierten Schauspieler zu fürchten beginnt und dieser Akt sich schließlich in einer stimmigen, unkitschigen und berührenden Liebesszene entlädt.

Von diesem großen Moment abgesehen, schleppt sich der Abend dahin – eine Koproduktion des Deutschen Theaters mit dem Prager Kammertheater und den Salzburger Festspielen, wo er im Rahmen des „Young Directors Project“ im August auch Premiere hatte – aber eher wie ein karg bebildertes Hörspiel. Unter diesen Umständen ist es natürlich besonders unvorteilhaft, dass das junge deutsch-tschechische Ensemble der Musil’schen Sprache – vor allem in ihren monologischen, reflektierenden Passagen – nicht durchweg gewachsen ist.

Der Bühnenbildner Olaf Altmann hat für Parizeks Inszenierung ein denkwürdiges Bühnenbild entworfen: Das Szenario ist ein überlebensgroßes Notausgang-Piktogramm, zerlegt in seine Einzelemente: links die Tür, rechts das vorwärts strebende Männlein. Im Laufe des Abends nähert sich die auf Schienen befestigte Figur immer weiter dem Ausgang; und bisweilen kann man sich des Wunsches kaum erwehren, der Pappkamerad möge seine Bewegung gen Zielgerade etwas beschleunigen.

Da hat einen dann aber schon wieder der wunderbare Schauspieler Alexander Khuon gepackt: Wie nuancenreich er die „Verwirrungen“ seines Törleß auslotet, wie scheinbar selbstverständlich er sich die Musil’sche Sprache zu Eigen macht, das ist einfach großartig!

CHRISTINE WAHL

Deutsches Theater, Kammerspiele, Schuhmannstraße 13 a, Mitte. Nächste Vorstellungen: 10. 9., 16. 9.