: Lücken füllen
In Milena Michiko Flašars Roman „Herr Katō spielt Familie“ vermögen vorgetäuschte Gefühle, Wunder zu bewirken. Er fordert die Kultur der Aufrichtigkeit heraus
Von Frederic Jage-Bowler
Herr Katō lebt mit seiner Frau in einer japanischen Vorstadt. Seit der Pensionierung klagt er über Sinnlosigkeit und regelmäßigen Schweißausbruch. Seine Ehe gestaltet sich als vergleichsweise glücklich – von momentanen Wutausbrüchen einmal abgesehen. Doch irgendetwas fehlt.
Da also betritt Mie die Bühne, hübsch und ziemlich altklug. Mie behauptet, sie sei Schauspielerin, aber keine gewöhnliche: Sie spiele Familie. Denn es seien bevorzugt Familien, denen sie für Geld ihre Dienste anbiete. Dabei könne sie alles spielen: Tochter, Tante, Schwester, Freundin. „Ich fülle eine Lücke“, sagt sie dem verblüfften alten Herrn. Herr Katō reagiert entsetzt. Was ihr denn einfalle, Familie zu spielen? Doch Mie schmeichelt ihm, er sei bestimmt ein guter Schauspieler. Dank Mies Charme und mangels einer handfesten Alternative beschließt Herr Katō, es zu wagen. Er beginnt selbst, Familie zu spielen.
Wie schon Milena Michiko Flašars Erfolgsroman „Ich nannte ihn Krawatte“ aus dem Jahr 2012 handelt „Herr Katō spielt Familie“ unter anderem von diesem Sich-heraus-Wagen aus der Lethargie des Alltags, schmerzhaft, aber letztlich lohnenswert. Vordergründig handeln beide Romane von Gründen, die das Leben lohnenswert machen. Jedoch besteht die wirkliche Leistung der 1980 in St. Pölten geborenen österreichisch-japanischen Autorin in der Art, wie sie „japanische Verhältnisse“ für deutschsprachige LeserInnen durchschaubar werden lässt. Im Gegensatz zur Tradition des nihonjinron in der japanischen Nachkriegsliteratur, die stets versucht hat, Japans Eigenheit zu betonen, verschreibt sich Flašar der Übersetzbarkeit und Gemeinsamkeit.
Heilsam wie ein Placebo-Effekt
Herr Katō muss erkennen, dass ihm die Arbeit als Schauspieler Freude bereitet. Bei seinem ersten Auftrag soll er für einen Jungen den lange verschollenen Großvater spielen. Das rührt ihn zutiefst. Nachher fühlt er sich wunderbar. Die Schweißausbrüche sind passé, alte Träume, wie der ständig wiederkehrende Wunsch vom romantischen Paris-Urlaub, erwachen zu neuem Leben. Doch ein Befremden bleibt. Herr Katō plagt ein eigenes Trauma. Was, wenn, alles nur gespielt, alles nur Theater ist?
Genau um diese Frage dreht sich Flašars Roman. Sie weiß diese eigenartige Beklemmung genau einzufangen. Ihr emotionaler Realismus lässt an die große Erzählerin Banana Yoshimoto denken.
Realistisch daran ist aber auch, dass es das besagte Geschäftsmodell in Japan wirklich gibt. Und dahinter lauert mehr als einfach nur ein weiterer Schritt Richtung Ökonomisierung der Liebe oder Krise der japanischen Gesellschaft. Im Gegenteil vermag Flašar daran Gutes zu zeigen. Die Kultivierung von Unwahrheiten, die „Simulation“ oder „Performanz“ von Wirklichkeit, vermag jedenfalls körperliches wie geistiges Leid zu lindern, ohne dabei zwangsläufig neues zu produzieren – ein Placebo-Effekt.
Denn das Buch zeigt ganz schön, dass das Soziale stets einen Anteil an Theaterspiel und Lüge enthält. Gerade engen sozialen Bindungen kann ein zu viel an Ehrlichkeit erheblich schaden. Ohne Lüge, so könnte man sagen, herrscht ein kalter Krieg der Seelen. Eine solche Erkenntnis muss provozieren.
Denn sie fordert unsere westliche Kultur der „Aufrichtigkeit“ und „Ehrlichkeit“ heraus, indem sie sie einer auf Gesichtswahrung bauende japanische Kultur entgegensetzt. Flašar geht dabei achtsam und äußerst einfühlsam vor, immer mit einem Blick auf die Fragen: Was ist echte Verantwortung? Wann ist sie geboten? Wann nicht? Mit dem Blick aus der kulturellen Totalen, die moralische Prinzipien absolut setzt, ist dem jedenfalls nicht beizukommen, das lernen wir aus der Lektüre.
„Herr Katō spielt Familie“ ist ein Liebesroman und Resultat einer großen kulturellen Übersetzungsleistung. Einmal sagt Mie: „Es ist unsere Überzeugung, dass jede Familie eine Schwachstelle hat. Wir sind nichts ohne diese Schwachstelle.“
Milena Michiko Flašar: „Herr Katō spielt Familie“. Wagenbach Verlag, Berlin 2018, 170 Seiten, 20 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen