Von Seeungeheuern und Sirenengesängen

In der Hamburger Opera stabile erzählt „Das Floß“ vom Navigieren zwischen Utopien und Dystopien. Ein bemerkenswert sprühendes Gesamtkunstwerk ist das

Fantastische Kostüme: Jóhann Kristinsson und Thorbjörn Björnsson (kopfüber) Foto: Jörg Kipping

Von Katrin Ullmann

Die eine Geschichte beginnt so: „Es war einmal ein Schiff und dann geschah ein Unfall.“ Vom Untergang der französischen Fregatte „Medusa“ im Juli 1816 erzählt sie, die auf dem Weg in die just zurückeroberte französische Kolonie Senegal vom unerfahrenen Kapitän auf eine Sandbank gesteuert wurde. Nur 15 von 150 Seeleuten überlebten das Unglück auf einem hastig gebauten Floß, weil sie sich gegenseitig kannibalisierten. Der Skandal erregte ganz Europa. Dem damals noch jungen Historienmaler Théodore Géricault gelang in der Pariser Kunstausstellung 1819 mit der Darstellung dieser Tragödie der Durchbruch, mit seinem „Floß der Medusa“.

„Es war einmal ein Schiff und dann geschah ein Unfall“ – so beginnt auch die andere Geschichte. Zugeschrieben wird sie Daniel Defoe. Aus dem Jahre 1728 erzählt sie von den Geschicken der Kapitäne Mission und Caraccioli und ihrer Mannschaft, die auf Madagaskar die basisdemokratische Piratenrepublik „Libertalia“ errichten wollen. Den Legenden nach begründeten sie eine Gesellschaft ohne Hierarchie, Sklaverei, Unterdrückung und Rassismus. Eines Nachts jedoch wurde die freie Republik angegriffen und vernichtet.

„Das Floß“, jetzt als Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper Opera stabile uraufgeführt, verzahnt beide Geschichten miteinander. Ein Auftragswerk (des NDR) war damals auch das Oratorium „Das Floß“, das Hans Werner Henze zum Unglück der Medusa komponierte – die Uraufführung 1968 fand nicht wirklich statt, sie endete in wildem Handgemenge und Tumulten.

Die Komponisten Alexander Chernyshkov, Andreas Eduardo Frank und Anastasija Kadiša haben sich nun erneut diesem Thema gewidmet – mit „sechs Variationen über das Navigieren zwischen Utopien und Dystopien“. Doch sie laden „Das Floß“ nicht rein politisch auf und widmen es den Entrechteten und Unterdrückten wie damals Henze und der Schriftsteller und Librettist Ernst Schnabel. Sie und vor allem die Texte von Aleksi Barrière, Alexander Chernyshkov, Andreas Eduardo Frank, Isabelle Kranabetter, Franziska Kronfoth und Elise Schobeß entfalten ein noch viel größeres Panorama. Das nicht nur von Weltverbesserern und Kannibalen erzählt, von Utopisten und Herrschern, von Unterdrückten und Gefangenen, sondern auch von Urängsten, Fernweh, dem Sog des Meeres, Selbstüberschätzung, Matrosenliedern und Seeungeheuern.

In einem kollektiven zweijährigen Prozess ist zu diesen vielen – und deutlich zu vielen – Themen ein bemerkenswerter Abend entstanden. Aleksi Barrière und Franziska Kronfoth zeichnen für die Regie verantwortlich, die sich im Wortsinn den ganzen Raum nimmt, die Zuschauer, die überall Platz nehmen dürfen, virtuos zu umspielen. Auf Rampen, auf Kisten und kleinen Bühnen, zwischen Tauen und Reling (Bühne: Eunsung Yang) spielen, rasen Schauspieler und Sänger sich durch ein schier endloses Meer an Geschichten. Ein Räucheraal, fischige Videoprojektionen (Patricia Compan Flores) und fluoreszierende Landkarten sorgen für bizarr maritime Atmosphäre. Und lässt man von dem sowieso vergeblichen Versuch ab, die einzelnen Versatzstücke und Assoziationen in einen logischen oder gar stringenten Zusammenhang zu bringen, wird man bald Zeuge eines sprühenden Gesamtkunstwerks.

Eines, das zwischen Balladen, sphärischen Sirenengesängen, Sprechgesang, Stampf- , Schnalz- und Zischgeräuschen übergangslos wechselt. Und eines, das mit fantastisch fantasievollen Kostümen (Lea Søvsø) – vom Fischgrätenkleid bis zur Freiheitsstatue – Seefahrer, Piraten und Meerjungfrauen erschafft, genauso wie mystisch leuchtende Kugelfische. Mark Johnston dirigiert, aus einer Zinkwanne entstiegen, mit einer scheinbar nebensächlichen Leichtigkeit das Ensemble, das aus immerhin 15 Darstellern, Performern, Sängern und Musikern besteht. Später wird Johnston sein Pult gegen eine herabschwebende Riesen-Medusa verteidigen müssen, noch später – immer noch dirigierend – ihren Greifarmen erliegen.

Zart, angstvoll sphärisch singen die Sopranistin Soomin Lee und Karina Repova (Mezzosopran) sich gegen Stückende um ihr Leben. Dann als sich das Meer aufbäumt, um jegliche Utopie von einer besseren Welt, jegliche Idee einer gelungenen Zivilisation unter sich zu begraben: „Ich liege hier in 1.500 Meter Wassertiefe.“ Beruhigend und unheimlich zugleich: die Musik, der Mythos, der Mensch und das Meer.

Sa, 12. 5., 20 Uhr, Hamburg, Opera stabile. Weitere Aufführungen: So, 13. 5., 17 Uhr + Di, 15. 5., 20 Uhr