: HSV-Land ist abgebrannt
Jan Ipsen wuchs im Schrebergarten am Rande des Volksparks auf, 45 Jahren lang besuchte er jeden zweiten Samstag die Heimspiele des HSV in der Bundesliga. Was der Abstieg daran ändert?
Von Tobias Scharnagl
Als es kam, wie es kommen musste, saß Jan Ipsen dort, wo er immer gesessen hatte. Südtribüne, Reihe 7, Platz 37.
Der Schiedsrichter pfiff ab, da nahm Ipsen ein letztes Bier, schal und alkoholfrei, strich die Kutte mit den bunten Aufnähern glatt, verließ das Stadion, ging die paar Hundert Schritte in seine Gartenlaube am Rande des Volksparks und gab sich die Kante. Weinen konnte er nicht. „Komisch eigentlich“, sagt Ipsen.
Jan heult hundertprozentig, das hatten alle gesagt, Kumpels, Kollegen, seine Frau, vor allem er selbst. Dann stieg der Hamburger SV ab, nach 55 Jahren Bundesliga, von denen Jan Ipsen 45 im Stadion gesehen hat, und Jan Ipsens Augen blieben trocken. „Ich versteh’s selbst nicht“, sagt er. „Vielleicht, weil ich mich lange darauf vorbereiten konnte.“
Es ist Mittwochabend, kurz vor sechs, ziemlich genau 96 Stunden nach der Katastrophe. Die Spieler haben sich in den Urlaub verabschiedet, das Stadion liegt groß und nutzlos da, und dort, wo der Bengalo-Regen der wütenden Fans niederging, ist der Rasen noch schwarz.
Jan Ipsen, 51, sitzt mit kleinen Augen am Tisch seines Schrebergartens. Es gibt Wasser mit viel Kohlensäure aus Plastikbechern, zwei HSV-Flaggen winden sich träge im Wind. Andere Kleingärtner haben ihre Fahnen auf Halbmast gesetzt, Ipsen winkt ab. „Ne. Ich bin stolz, HSVer zu sein.“
Er ist müde, er arbeitet als U-Bahn-Fahrer und ist seit drei Uhr morgens auf den Beinen. „Keiner von uns hört auf. Keiner hat auch nur eine Sekunde gedacht: Da geh ich nicht mehr hin.“ Er meint das Volksparkstadion. Er meint aber auch: Keiner von uns, kein echter Fan, hört auf, den HSV zu lieben.
Als am Samstag feststand, dass der HSV sich nicht mehr retten kann, sangen die Fans im Stadion „Mein Hamburg lieb ich sehr“. Ipsen fährt sich über den Unterarm: „Gänsehaut“.
Ipsen sagt: „Wir stecken den Kopf nicht in den Sand, wir machen weiter“, und dabei klingt er fast wie die Fußballspieler, denen nach einer Niederlage ein Mikro unter die Nase gehalten wird.
Weh tut der Spott der anderen Fans. Die Gladbacher, die im letzten Spiel ein Plakat hissten, das in Anspielung an die legendäre HSV-Uhr anzeigte, wie viel Zeit den Hamburgern noch in der ersten Liga blieb. Die St.-Pauli-Fans, die Ipsen auf der Arbeit trifft. Die „Feinde aus der verbotenen Stadt“, die ein Lied auf Youtube gestellt haben, in dem sie die Hamburger verhöhnen. Wenn Ipsen Bremen meint, sagt er „verbotene Stadt“.
„Spott und Hohn ist legitim – das habe ich jahrelang so gemacht.“ Aber anders als die Bremer im Video würde er sein Gesicht nicht hinter einer Maske verstecken. „Schlappschwänze“, meint er.
Was ihn nervt, sind die „Bildzeitungssportler“, die von Fußball keine Ahnung haben, am Montag die Bild lesen und dann kommen und fragen: „Na, abgestiegen?“
In Ipsens Fanklub gibt es glücklicherweise nur Menschen, die sich auskennen. Die Dalton Brothers Germany, 42 Mitglieder, 25 mit Dauerkarte. Vor jedem Heimspiel treffen sich die Jungs in Ipsens Garten, grillen, trinken Bier, gehen zum Stadion, schauen das Spiel, gehen zurück, trinken Bier. Wenn kein Fußball ist, knattern sie mit ihren Motorrädern durch die Gegend; sie sind auch ein Bikerklub.
Im Sommer sitzen sie draußen auf der abgefuckten grünen Sitzreihe, die auf verschlungenen Pfaden aus dem alten Volksparkstadion in Ipsens Garten kam. Im Winter sitzen sie in der Laube, Ipsen stellt dann den Elektro-Ofen an.
Auch ohne 25 erwachsene Männer ist die Laube eng und voll. Überall Wimpel, Schals, Fotos, Aufkleber. In der Ecke steht ein dunkles Sofa, darauf liegt ein gehäkeltes Kissen mit der HSV-Raute. Ipsen, breit und groß und tätowiert, muss den lockigen Kopf einziehen, wenn er mit seinem Körper rangiert.
An der Decke hängen hinter Glas die Dauerkarten von Ipsen, man kann ihm und seinem Verein darauf beim Erwachsenwerden zusehen: Der 14-jährige Jan, lächelnd, der HSV wird Deutscher Meister. Zwei Jahre später, Jan kneift die Augen zu, der VFB Stuttgart schnappt den Hamburgern den Titel weg.
Er war fünf Jahre alt, als ihn sein Großvater Anfang der 70er das erste Mal mit ins Stadion nahm. Im Fernsehen liefen nur Spiele von Bayern und Gladbach, und Jan fing an, die Bayern zu mögen. Der Großvater schritt ein und kaufte ihm einen blauen Schal, eine blaue Mütze und eine Tröte.
Jan weiß noch, wie in der Kurve die rauen, bärtigen Männer grölten, mit ihren Kutten aus Jeans und den bunten Aufnähern, sie sangen „Ruuuckiiizucki, Ruuuckiiizucki“, immer wieder, und er verstand es nicht und fand es großartig. Er beschloss, später auch so eine Kutte zu tragen.
Fortan drückte ihm der Großvater alle zwei Wochen fünf Mark in die Hand, und Jan lief den älteren Jungen, die wie er in den Häuschen in der Gartenanlage am Rande des Volksparks wohnten, ins Stadion hinterher. Mit elf kaufte er sich eine Dauerkarte.
In den folgenden 40 Jahren verpasste Ipsen zehn Spiele. Einmal machte er Urlaub auf den Philippinen, das andere Mal saß er mit gebrochenem Wadenbein auf dem Sofa und wurde fast irre.
Fragt man Ipsen, warum er sich das jeden Samstag antut, bei Hitze, Kälte, Hagel, überlegt er lange. „Gute Frage“, brummt er, sein Blick verliert den Fokus, irrt durch die Laube und bleibt an einem Schal hängen, auf dem „Scheiß Bremen“ steht. Ipsen schaut hindurch. „Ich werde verrückt, wenn ich nicht hingehe.“
„Ha!“, ruft er plötzlich und verschwindet in der Laube. Er kommt mit einem Lächeln und einem blauen Fotoalbum zurück. Auf dem Cover steht: „Ein Schal geht um die Welt.“
Ipsens Bruder hatte die Idee, auf seinen Reisen den Schal des Fanklubs mitzunehmen und davon Fotos zu machen: der Schal auf dem Walk of Fame in Hollywood, der Schal um die Schultern von Jonny Depp in Madame Tussauds, der Schal im Kölner Dom, emporgereckt von Ipsens Bruder, einem großen Mann mit Bart, lachend und umringt von kleinen Touristen.
Es ist eine gute Geschichte, Ipsens bärtiges Gesicht wird weich, wenn er sie erzählt. Er steht vor seinem Kühlschrank und mustert einen Sticker. „Unabsteigbar“ steht da. „Hm“, brummt Ipsen. „Was mach ich nu mit dem?“
In der Tür erscheint seine Mutter, sie wohnt nebenan, in dem Haus mit den Tiergeweihen über der Eingangstür, in dem Ipsen aufgewachsen ist. Sie hat zwei Hunde im Schlepptau, schaut kurz in die Laube, sagt „Ach, du hast Besuch“ und geht wieder rüber.
Anders als in München oder Dortmund trägt das Stadion in Hamburg keinen Sponsoren-Namen mehr, seit 2015 heißt es wieder Volksparkstadion. Die Hamburger Fans sind darauf sehr stolz.
Ipsen strahlt: „Das haben sie an meinem Geburtstag geändert.“ Klaus-Michael Kühne, der Mann, der den HSV mit Geld versorgt, habe ihn damals angerufen, um ihm ein Geschenk zu machen: Ob er Messi oder Ronaldo kaufen solle für den HSV? Ipsen sagte: „Keinen! Sorg’nur dafür, dass unser Stadion wieder Volksparkstadion heißt.“
Ipsen erzählt die erfundene Geschichte mit heiligem Ernst. Dann lacht er. Er steht mit eingezogenem Kopf in seiner HSV-Höhle, und man begreift, dass es stimmt, wenn er sagt, dass Fußball für ihn mehr ist als ein Spiel.
Erst mal zählen Tor oder Nicht-Tor, Sieg oder Niederlage, Abstieg oder Rettung.
Aber es gibt eine zweite Ebene. Es geht darum, eine Geschichte zu erzählen. David gegen Goliath, Nachbar gegen Nachbar, Kommerz gegen Tradition.
Ob die Geschichte stimmt oder nicht, ist zweitrangig. Gut muss sie sein.
Der HSV lebte davon, der einzige Verein zu sein, der nicht aus der Fußball-Bundesliga absteigen konnte. Ein Mythos. Den ist der HSV jetzt los. Aber das ist nicht das Ende.
Die alten Spieler machen Urlaub, ein paar neue werden gekauft, der Rasen wird erneuert, im Volksparkstadion spielen Billy Joel ein Mal und Helene Fischer zwei Mal, und dann beginnt in der zweiten Liga die neue Saison und die Geschichte könnte heißen: Schafft es der gefallene Held, wieder aufzustehen?
Aber so weit ist Ipsen noch nicht, emotional. „Ich frage mich, ob man dem Abstieg irgendwas Positives abgewinnen kann“, sagt er und überlegt. Dann schüttelt er den Kopf. Er kann sich ein paar neue Stadien ansehen in der zweiten Liga, und seine Dauerkarte kostet jetzt nur noch 269 Euro statt 309 – aber sonst?
„Ich habe Angst, dass jetzt der richtige Absturz kommt.“ Wie bei Kaiserslautern. Der Klub war wie Hamburg Gründungsmitglied der Bundesliga, spielte bis 1996 durchgehend in der ersten Liga. Der Klub ist gerade in die dritte Liga abgestiegen. „Das darf uns nicht passieren.“
Es dämmert jetzt über HSV-Land, Ipsens Antworten werden kürzer. Er muss Schluss machen. Im Klubhaus der Kleingartenanlage wird heute getanzt. Ipsen geht hin. Fox, Jive, Tango. „Am Ende denke ich immer, ich kann’s. Dann kommt die nächste Stunde – und alles geht wieder von vorn los.“
Ipsen geht zum Gartentor, bleibt stehen. Seine Augen leuchten. „Weißt du was? Als der Schiedsrichter am Samstag abgepfiffen hat, sind 500 Menschen in den Verein eingetreten!“
Jemand hat ihm die Geschichte nach dem Spiel erzählt. Sie ist gut – und stimmt.
Als er sie hörte, sagt Ipsen, seien ihm fast die Tränen gekommen.
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