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berliner szenen1999 sei alles an die Juden gegangen

Das letzte Telefongespräch war komisch. Dann war M. nicht mehr zu erreichen. Ich stellte mir vor, dass er tot in seiner Wohnung liegen würde, und ging zu seinem Haus. Der eine Fahrstuhl funktionierte schon wieder. Vor dem Fahrstuhl stand ein kräftiger Mann um die sechzig und schimpfte vor sich hin, weil der renovierte Fahrstuhl viel zu klein war. Mit Rollstuhl passt man da nun nicht mehr rein. Viele Leute mit Rollator oder Rollstuhl leben in dem zwölfstöckigen Haus. Dann ging es um die Mietsteigerungen. Die Juden seien schuld. Es sei eine allgemein bekannte Tat­sache, dass der gesamte so­ziale Wohnungsbau den Juden gehören würde. 1999 sei alles an die Juden gegangen, erzählte er und wandte sich dabei an zwei junge Kreuzberger Türkinnen, die zustimmend nickten.

Sie sagten, dass Biodeutsche bevorteilt werden würden, und das mit den Juden käme daher, dass die Deutschen so ein schlechtes Gewissen hätten. Er sagte, es sei doch bewiesen, dass in Auschwitz unmöglich sechs Millionen Juden hätten vergast werden können, und außerdem sei die deutsche Regierung nicht deutsch, es sei doch bekannt, dass Angela Merkel jüdisch sei. Dann zählten sie die Sachen auf, die sich in den letzten dreißig Jahren verschlechtert hätten.

Der Antisemit erinnerte mich an einen der Spätikumpel von M. Wenig später stand ich vor M.s Tür. Niemand machte auf. Ich hörte sein Telefon klingeln, als ich ihn anrief, und stellte mir wieder vor, er läge tot in der Wohnung. Ich ging in den zwölften Stock, wo ich seine Betreuungsstelle ­vermutete. Im Treppenhaus roch es nach Gras. Die Mädchen von eben saßen da und kifften. Der Blick über Kreuzberg war schön. Bei seiner Betreuungsstelle teilte man mit, M. sei vor drei Tagen in die Intensivstation des Urban-Krankenhauses eingeliefert worden. Detlef Kuhlbrodt

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