Der Verdacht kann warten

„Oh Gott, das sind ja Kinder“, habe ihr Juniorchef gerufen. Anschließend erstatteten sie Anzeige. Die Polizei nahm den Computer mit

AUS BOCHUM HEIKE HAARHOFF

Sie hatte an jenem Freitag gar nicht ins Büro gewollt. Aber die Freunde hatten ihr kurzfristig abgesagt, der Wochenendausflug war geplatzt. „Ich dachte, wenn du schon zu Hause bleibst, gehst du ein bisschen arbeiten“, sagt Christine Brauer. Sie muss sich konzentrieren, auf ihre Stimme, sie soll nicht schrill klingen, auf ihre Worte, Sachlichkeit ist wichtig, auf ihre Gestik, bloß keine flatternden Hände.

Sie möchte, dass man ihr glaubt.

Nicht sie hat die Unruhe in die Firma gebracht. Nicht sie ist die Böse. Nicht sie muss sich Vorwürfe machen lassen. Sie muss sich diese Dinge aufsagen, manchmal laut. Sonst denkt sie am Ende noch, was ihre Kollegen sie spüren lassen: dass sie irgendwie mitschuldig ist an diesem Schlamassel.

Er hatte die Kinderpornos auf seinem Computer im Büro. Sie hat sie entdeckt. Und ihn angezeigt. Die Polizei informierte ihn später darüber und auch, dass sie in etwa neun Monaten wissen werde, ob die Bilder auf seiner Festplatte tatsächlich strafbar sind. In neun Monaten. Neun Monate perfide Unterstellung, neun Monate ungeheuerlicher Verdacht, wie man es nimmt. Neun Monate, in denen alles weitergehen soll wie bisher unter Kollegen?

Michael Bloch, Bochumer Polizeisprecher: „Ich bitte da um Verständnis. Die Kollegen aus der IT-Dienststelle müssen das ganze Bildmaterial sichten, die Festplatten. Sie sind zu dritt, zuständig für Bochum, Herne, Witten. Für Wirtschaftskriminalität, für Sittendelikte, für Betrugsverfahren, für Raubkopien, für alles, wo Computer in Strafverfahren sichergestellt werden. Wir haben einen Vorgangsstau. Ich will das Delikt nicht herunterspielen. Aber es scheint sich hier nicht um einen absolut dringenden Fall zu handeln, der vorgezogen werden müsste.“

Sie sitzen Schulter an Schulter am Arbeitsplatz, die Projekte, die sie erledigen, erfordern, dass man Hand in Hand arbeitet, ohne Kommunikation geht nichts in der Designerbranche. In der Firma sind sie zu fünft, drei Chefs, miteinander verwandt, sie – und er. „Mein Leben seitdem“, sagt sie, „ist ein Brei.“

Michael Schwarz, Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf, Zentralstelle zur Bekämpfung pornografischer Schriften: „Wir erachten eine neunmonatige Bearbeitungszeit für zu lange. Ich muss Sie aber bitten, sich ans Innenministerium zu wenden. Das Problem ist uns bekannt. Es ist in Deutschland kein Einzelfall.“

Christine Brauer hat um ein Treffen in einem Café in der Bochumer Innenstadt gebeten, sie hofft, dass Öffentlichkeit dazu beiträgt, den Verdacht schneller zu beenden, so oder so. Sie ist eine zierliche Frau, sie bestellt einen Kaffee und ein Wasser und zückt die Zigaretten. Sie sieht mitgenommen aus. Fünf Wochen sind vergangen seit jenem Freitag, an dem sie die Bilder zufällig entdeckte. Für den Kollegen gilt die Unschuldsvermutung. Sie weiß, wie sehr die Chefs um den Ruf ihres Familienunternehmens fürchten. Bochum ist klein. Deswegen heißt sie in der Zeitung anders als in Wirklichkeit. Deswegen darf die Firma nicht näher beschrieben werden. Deswegen ist sie die einzige Beteiligte, die bereit ist, sich zu äußern.

Frank Scheulen, LKA Nordrhein-Westfalen: Die Hinweisgeberin braucht kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat absolut richtig gehandelt. Kinderpornografie ist kein Kavaliersdelikt, es ist eine Straftat: Für jedes Bild wird ein Kind missbraucht.

Und wenn sie sich vertan hat? Wenn die gequälten Menschen auf den Bildern, die sie nachts nicht schlafen und tags unkonzentriert werden lassen, doch keine Kinder waren? Sondern vielleicht junge Erwachsene, auf kindliches Aussehen getrimmt? Nein, sagt Christine Brauer, sie weiß, was sie gesehen hat. Aber ihr Chef, den sie damals benachrichtigte, der sage heute, er habe bei der Inspektion des Computers seine Brille ja nicht aufgehabt. „Ich sitze gegen vier Leute da“, sagt Christine Brauer.

Silke Specht, LKA Sachsen: „Wenn so was bekannt wird, wird sofort gehandelt. Aber die Polizei ist einfach gnadenlos überlastet.“

Der Reihe nach. An jenem Freitag Ende Juli ging sie ins Büro, es war nur ein Praktikant da. Nichts Ungewöhnliches bei nur fünf Mitarbeitern. Sie setzte sich an den Computer des Kollegen, sie kannte sein Passwort, er hatte es ihr gegeben, für den Fall, dass er nicht da ist und sie wichtige E-Mails abrufen muss. Für einen Fall wie jenen Freitag. „Ich bin mit der Maus über den Bildschirm gefahren und muss irgendwo zufällig geklickt haben.“ Plötzlich war der Schirm voller Bilder, die da nicht hingehörten. Weg, nur weg mit dem Dreck, sie weiß nicht mehr, ob sie diese Worte gedacht hat in dem Moment, aber gehandelt hat sie so: weg mit dem Dreck in den Computer-Papierkorb. Dann ist sie nach Hause gerannt. „Ich war unter Schock.“

Rudolf Gaspary, LKA Schleswig-Holstein: „Jemand, der im Verdacht steht, Besitzer von kinderpornografischen Schriften zu sein, wird mit einer geringeren Priorität bearbeitet, als jemand unter dem Verdacht der Herstellung von derartigen Bildern. Polizei und die Staatsanwaltschaft in Schleswig-Holstein orientieren sich an der Rechtsprechung, wonach auch bei Delikten niedrigerer Qualität die Auswertung innerhalb eines halben Jahres abgeschlossen sein muss.“

Der Kollege und sie kennen sich seit fast fünf Jahren, so lange arbeiten sie zusammen. Sie ist Anfang 40, er Anfang 30, sie sind nicht eng befreundet, aber gute Bekannte, ab und zu gehen sie nach Dienstschluss ein Bier trinken, sie haben dieselbe Stammkneipe, ihre Freundeskreise überschneiden sich.

Warum sie ihn nicht angerufen und zur Rede gestellt hat? Die Antwort kommt prompt, sie muss sie schon öfter gegeben haben: „Das ging überhaupt nicht. Die Bilder übersteigen alles, was man sich vorstellen kann, ich kann mit dem nicht mehr reden.“ Natürlich gebe es eine Hemmschwelle, sagt Christine Brauer, jemanden bei der Polizei anzuzeigen, zumal jemanden, den man kennt. „Ich habe die Polizei davor nur ein einziges Mal in meinem Leben gerufen, wegen Ruhestörung, nachdem bei meinen Nachbarn drei Wochen lang am Stück gebrüllt wurde.“ Auch an jenem Freitag wählte Christine Brauer nicht sofort die 110, sondern versuchte zunächst, zur Ruhe zu kommen und mit Freunden zu überlegen, was zu tun sei. Auch eine Beratungsstelle hat sie noch erreicht. Der Kollege könne versuchen wollen, das Beweismaterial zu vernichten, wenn sie zuerst ihn und erst anschließend die Polizei informiere, erfuhr sie dort.

Uwe Geisler, LKA Thüringen: „Insbesondere bei Kinderpornografie sind wir bemüht, die Verfahren nicht mit geschichtlicher Reife zu belegen. Aber dass die Bearbeitungsdauer neun Monate beträgt, das kann schon mal sein.“

Erst am Samstag meldete sie ihre Entdeckung den Chefs, sie versammelten sich in der Firma. „Oh Gott, das sind ja Kinder“, habe ihr Juniorchef gerufen. Anschließend erstatteten sie gemeinsam Anzeige bei der Polizei, die den Computer mitnahm. „Ich habe gedacht, in ein paar Wochen ist alles vorbei“, sagt Christine Brauer.

Maik Kurlbaum, LKA Sachsen-Anhalt: „In den vergangenen Jahren ist für Sachsen-Anhalt ein stetiger Anstieg der auszuwertenden Fälle zu verzeichnen. Gründe hierfür sind der Fortschritt der Technik, der Preisverfall auf dem Gebiet der Computertechnik, die Verbreitung schneller Internetanschlüsse, die Zunahme der Kapazität der Speichermedien.“

Nichts ist vorbei. Nur dass in der Firma außer ihr niemand darüber spricht. Christine Brauer erzählt es so: Unmittelbar nach der Anzeige habe sie ein klärendes Gespräch mit allen Beteiligten angeregt. Für sie gab es drei Möglichkeiten: „Entweder er geht, oder wir arbeiten nicht mehr zeitgleich zusammen, oder ich gehe.“ Eine Kündigung sei für ihre Vorgesetzten nicht in Frage gekommen, solange die Polizei die Vorwürfe nicht überprüft habe. Mit dem Gespräch aber seien sie einverstanden gewesen. Doch der Kollege habe sich geweigert.

Ein paar Tage lang probierten sie es mit geteilten Arbeitszeiten: sie morgens, er nachmittags. Auf die Dauer unmöglich, die Firma ist zu klein für Schichtdienst. Christine Brauer ließ sich krankschreiben. Bei ihrer Rückkehr gab es doch ein Gespräch. Alle blickten schweigend auf den Boden.

Claudia Vordermaier, Bayerisches LKA: „In Fällen des Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Schriften in Bayern werden die EDV-Spuren beim Beschuldigten neuerdings durch forensische Laboratorien in der Wirtschaft ausgewertet. Die Ergebnisse liegen bereits nach circa 14 Tagen vor.“

Dann fange ich mal an, habe sie schließlich gesagt, und dass sie gern wissen würde, was der Zweck des Gesprächs sei. „Da ist es eskaliert“, sagt sie. Die Chefin sei mit hochrotem Kopf aufgesprungen und habe gerufen: Das Gespräch machen wir doch nur wegen dir! Der Kollege habe gezischt, noch nie sei er von jemandem so angegangen worden. Er wisse selbst nicht, woher die Kinderpornos kämen. Irgendwann habe er einen Link gesetzt, seitdem würden sie ihm angeboten. „Ich habe nur noch geheult“, sagt Christine Brauer, „man weiß ja, so was findet statt, aber man hat doch immer gedacht, nicht in meinem Umfeld.“

Frank Federau, LKA Niedersachsen: „Das Problem der Bearbeitungsdauer ist uns bekannt. Aber wir sind die Ermittlungsbehörde und müssen das Gutachten vertreten. Von daher sehen wir es als problematisch an, nicht zuletzt aus Gründen des Datenschutzes, die Ermittlungen an ein Fremdunternehmen zu übertragen.“

Der Barmann in ihrer Stammkneipe fragt manchmal, was los sei, warum ihr Kollege jetzt vormittags häufig Zeit hat. Sie antwortet dann, er möge den Kollegen doch selbst fragen. Ein gemeinsamer Freund hat ihr die Freundschaft gekündigt. Er findet ihre Anzeige unerhört. Christine Brauer sagt, dass sie nichts bereut und alles genauso wieder machen würde. Ihre Chefin hat zurzeit Urlaub. So lange darf Christine Brauer in ihrem Büro sitzen. Und danach?

Birgit Dienstbier, Opferschutzbeauftragte, Polizei Bochum: „Unsere Aufgabe ist es, den Betroffenen Verhaltens- und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Am Ende muss jeder seinen eigenen Weg finden.“

Sie hat ihre Kündigung angeboten. Gegen den Rat ihres Anwalts. Eine unbefristete Stellung, heutzutage. Ihre Chefs denken darüber nach.