Eiskalt in London

Für Tausende Russen in Groß­britannien hat sich der Wind gedreht. Sie fürchten angesichts der Skripal-Affäre Unsicherheit und schlechtere Geschäfte

Derzeit nicht gerne gesehen: russische Präsenz in London, hier das Konsulat Foto: Phil Noble/reuters

Aus London Daniel Zylbersztajn

Am Rande des Londoner Freibades Parliament Hill im Stadtpark Hampstead Heath sitzt Leeroy Murray, 73. Die Morgensonne strahlt auf den rotbraunen Backsteinbau aus den 1930er Jahren. Murray schwimmt hier das ganze Jahr über, auch wenn es kalt ist, „aus Gesundheitsgründen“, wie er sagt.

Der dünne Mann mit Schnauzer hat ein Buch mitgebracht. „Ich spionierte für Stalin“ aus dem Jahr 1950, geschrieben von seiner Mutter Nora, die Russin in der Familie. Nora Korzhenko, wie sie vor ihrer Heirat mit dem Engländer John Murry hieß, war eine KGB-Agentin, die sich in ihr Spionageopfer, Leeroys Vater John, verliebte, als dieser im Zweiten Weltkrieg an der britischen Botschaft in Moskau arbeitete. Sie folgte ihm später nach London. Beide schrieben ihre Lebensgeschichten auf, Nora in ihrem Bestseller von 1950, John 1978 in „Ein Spion namens Schwalbe“. Beide sind mittlerweile verstorben, aber vergangenes Jahr wurden ihre Bücher zusammen neu aufgelegt, unter dem Titel „Nora and John: The Russian Love Story“.

Zur Feier der Wiederauflage luden Leeroy Murray und sein Bruder Peter im November in einen Privatklub ein. Unter der Menge tummelte sich Londons russische Exilgemeinde: Schauspieler, Autoren, Journalisten, auch Schwimmkumpan*Innen Leeroys. Eine Band mit Sängerin gab russische Weisen, man trank Wodka. Mit dem hundertjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution war Russland gerade en vogue. Peter erwähnte in einer kleinen Ansprache den Brexit „als Prozess, der das Gegenteil der Lebensgeschichte unserer Eltern darstellt“ .Doch das war auch alles, was es damals politisch anzumerken gab.

Heute wäre das sicher anders. Denn nur vier Monate nach der Buchpräsentation veränderte die Giftstoffattacke auf einen anderen ehemaligen russischen Spion, Sergei Skripal und seine Tochter Julia die Atmosphäre zwischen Russland und Großbritannien grundlegend. Seit die beiden Skripals am 4. März bewusstlos auf einer Parkbank im südenglischen Salisbury gefunden wurden, die britischen Ermittler eine Nervengiftattacke mit dem russischen chemischen Kampfstoff Nowitschok diagnostizierten und die britische Regierung Russlands Regierung für den Anschlag verantwortlich machte, herrscht Eiszeit zwischen London und Moskau.

In Großbritannien leben nach der letzten Volkszählung von 2011 38.000 in Russland geborene Personen, die Hälfte davon in London. 28.000 besitzen die russische Staatsbürgerschaft. Diese Zahlen werden stark bezweifelt. In London gibt es mehrere russische Kulturinstitute, russische Schulen und orthodoxe Gemeinden. Das britisch-russische Magazin Zima schätzt, dass mindestens 766.000 Menschen aus Russland oder der ehemaligen Sowjetunion seit mehr als sechs Monaten in Großbritannien leben. Viele seien hochgebildet und vermögend, darunter auch eine kleine Gruppe von Multimillionären, sogenannte Oligarchen, die auf dem Finanzplatz London ihre Millionen vor neugierigen Blicken schützen.

„Zwischen Russland und dem Westen geht es immer entweder extrem heiß oder extrem eisig zu“

Livia Pacci von der Risiko-Beratung GPW

Sie verhalten sich unauffällig. Jeder Londoner weiß zwar, dass Roman Abramowitsch den Fußball-Spitzenklub Chelsea besitzt, Alischer Usmanow Anteile Arsenals gehören und Alexander Lebedev ein regelrechtes Medienimperium errichtet hat. Ansonsten hört man in den Medien vor allem von ungeklärten oder verdächtigen Todesfällen, vor allem unter nach London verzogenen Gegnern des russischen Regierung. Kein Geheimnis sind die Käufe einiger Londoner Villen durch die kleine Gruppe der superreichen Oligarchen zu Rekordpreisen.

Aber wie schätzen die in London lebenden russischstämmigen Bürger die neue Lage seit dem Fall Skripal ein?

In einer Seitenstraße nahe dem Piccadilly Circus, mitten in der Londoner Innenstadt, wo sich orientierungslose Touristen zwischen einigen der teuersten Immobilien der Welt drängeln, wartet Roman Grigoriev, Linksscheitel und glattrasiert, im lässigen Chic, rote Hose, weißes Hemd und grauer Blazer, in einer pinken Gesprächsecke seines Büros hoch oben in einem ultramodernen Bürokomplex. Seit 15 Jahren lebt der 36-jährige Este russischer Abstammung in dieser Megastadt, denn „London ist der beste Ort der Welt, man kann hier sein wer man will“, findet er. Er wuchs in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion auf, nach dem Abitur studierte er Betriebswirtschaftslehre und Immobilienrecht. „Meine Generation sah respektable Wissenschaftler nach der Perestroika die Straßen fegen, so studierten wir alle Recht oder Business.“ Das Studium brachte ihn nach Minnesota und von dort nach London. Hier arbeitet Grigoriev als einer von wenigen russisch sprechenden amtlich anerkannten Immobiliengutachtern Großbritanniens. Vor elf Jahren hat er seine Maklerfirma Longrad mit Spezialisierung auf russisch sprechende Käufer gegründet.

Russische Oligarchen lieben Grundbesitz in London

Kein schlechter Gedanke, wenn man bedenkt, dass sich viele russische Oligarchen in London angesiedelt haben. Die Summen ihrer Immobilieninvestitionen betragen Schätzungen zufolge über 100 Millionen Euro. Antikorruptionslobbyisten behaupten, dass vieles davon aus Geldwäschegeschäften stammt, und fordern deshalb strengere Regulierungen. Ihnen schwebt dabei eine Regelung nach dem amerikanischen Magnitsky-Gesetz vor, das es dem Staat ermöglicht, bei nachweisbarem kriminellen Verhalten wie Mitverantwortung für Menschenrechtsverletzungen oder Morde Privateigentum zu konfiszieren.

Fürchtet um sein lukratives Immobiliengeschäft: Roman Grigoriev Foto: Daniel Zylbersztajn

Roman Grigoriev behauptet, er habe noch nie Oligarchen unter seinen Kunden gehabt. „Mein Weg zum studierten und akkreditierten Immobilienexperten war zu aufwendig, um das für irgendeinen Deal aufs Spiel zu setzen“, bemerkt er. Eher seien seine Kunden jüngere Anleger aus der Mittelschicht. „Das Interesse an London hat nicht nur mit Oligarchen und Geldwäsche zu tun“, betont der Makler. „Russland, wie viele ehemaligen Staaten der Sowjetunion, ist ein Land ohne soziale Absicherung.“ Um vorzusorgen, ist die Beschaffung eigenen Wohnbesitzes vorrangig. In Großbritannien seien die Hypotheken günstig. Beliebt seien nicht nur selbst genutzte Wohnungen, sondern auch Mietobjekte.

Die Skripal-Affäre ist schlecht fürs Geschäft, schätzt Grigoriev und erinnert sich an die Zeit vor vier Jahren, nach der russischen Invasion und Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel. „Viele Russen werden nun unfair mit dem gleichen Vorurteilen behandelt, vorangetrieben von den westlichen Medien“, klagt er. Schlecht fürs Geschäft sei außerdem der Brexit. „Das schadet das der Attraktivität des Landes.“

Ein britisches Magnitsky-Gesetz als Antwort auf den Fall Skripal würde die Attraktivität Großbritanniens in russischen Augen noch weiter nach unten ziehen. „Leute, die fragwürdige Hintergründe haben, sollten es eigentlich gar nicht erst schaffen, etwas hier zu kaufen“, findet er. Aber wenn der Staat einem Besitzer das Haus wegnehmen könne, verkörpere das die gleiche Unsicherheit, wegen der viele Russen ihr Kapital überhaupt erst nach London bringen. „Was geschieht bei einer Zwangsübernahme deiner Firma durch die russische Elite – nimmt man dir dann das Haus in London weg?“, fragt er.

Von Piccadilly Circus geht es zu Fuß durch die engen Straßen Sohos, vorbei an Straßencafés und Tonstudios, über die Einkaufsmeile Oxford Street nach Fitzrovia, dem ehemaligen Modezentrum Londons. Eine eher ungewöhnliche Adresse für eine globales Risiko-Beratungsunternehmen. GPW ist Marktführer in diesem Sektor. Schon bald nach der Giftstoffattacke auf die Skripals war GPW mit ihren Analysen in den britischen Medien präsent. „Jetzt geht es schon wieder los“, antwortet Livia Pacci, eine der mit Russland befassten GPW-Direktorinnen auf die Frage, was sie dachte, als sie von der Salisbury-Giftstoffattacke hörte.

„Oligarchen können wegen ihres Geldes rein, Menschen wie ich haben es dreifach schwer“

Elena Petrova, arbeitslose Russin in London

Die Mitdreißigerin, Tochter eines italienischen Kommunisten und bekannten Gramsci-Experten, hat schon Arbeitserfahrungen in Tadschikistan, Kasachstan und Moskau hinter sich. „Zwischen Russland und dem Westen geht es immer entweder extrem heiß oder extrem eisig zu“, meint sie. Investoren würden sie immer häufiger fragen, warum sie angesichts der aktuellen Probleme Russlands nicht gleich in afrikanischen Ländern einsteigen sollten. Sie zeigt auf die GPW-Risikoliste zu möglichen Investitionspartnern in Russland: Viele Firmen sind dort in Rot gekennzeichnet, einige in Gelb und nur sehr wenige in Grün für Unbedenklich. Was sie aber nicht verstehe, sagt Pacci, sei, weshalb man gegen Russland so hart vorgehe, und Regierungen wie Südsudan oder Saudi-Arabien aber links liegen lasse.

Pacci bemängelt zudem die neuen Sanktionen und Diplomatenausweisungen: „Der Westen unterschätzt die Widerstandskraft Russlands und die kollektive Fähigkeit, Schmerz zu vertragen.“ Im Herzen der Regierung säße eben Ex-KGB-Funktionären wie Putin, die alle Mittel einsetzten, „und sei es ein Labrador-Hund, wenn die deutsche Kanzlerin zu Besuch kommt“. Es gelte deshalb, nuanciert hinter die Kulissen zu blicken. Genau das mache ihr Vater, der längst nicht mehr Kommunist sei und skeptisch meine, das alles schon einmal gesehen zu haben.

Ganz offensichtlich wird das Geschäftsklima für Russen in London derzeit schwieriger. Wirkt sich das auch auf das Leben der Betroffenen allgemein aus? In einem französischen Bistro am Monument, der alten begehbaren Denkmalsäule im Londoner Finanzviertel, wartet Elena Petrova, 33, schwarze Haare in blauer Lagerfeld-Jacke und Jeans. Ihr Ausdruck hat etwas Unruhiges, sie heißt eigentlich anders und will nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden, denn sie sucht intensiv Arbeit: Innerhalb von 60 Tagen muss sie sich einen neuen Job geangelt haben, oder es ist vorbei mit ihren neun Jahren London und sie verliert ihre Aufenthaltsgenehmigung, trotz der kleinen Wohnung im Osten der Stadt, die sie sich gekauft hat.

Persönlich gesehen war die Skripal-Affäre das Letzte, was sie gerade gebraucht hätte, sagt Petrova. Nicht-EU-Bürger*Innen stünden ohnehin schon ganz hinten, wenn es um Stellenbewerbungen gehe. Ihre Bewerbung auf ein MBA-Studium sei abgewiesen worden, weil man glaube, sie würde Großbritannien später nicht mehr verlassen, berichtet sie und schimpft: „Oligarchen aus Russland können einfach wegen ihres Geldes rein, und Menschen wie ich haben es dreifach schwer.“

Fühlt sich an den kalten Krieg der beginnenden 1950er Jahre erinnert: Leeroy Murray ist Sohn einer russischen Spionin Foto: Daniel Zylbersztajn

Elenas Eltern waren einst gefragte sowjetische Wissenschaftler. So verbrachten sie mehrere Jahre im Westen. Nach einigen Jahren an der Universität in Moskau begann Elena eine Master-Studium in London in Marketing und fand eine entsprechende Arbeit. Aber ihr letzter Arbeitgeber ist pleite gegangen. Der Gedanke, jetzt nach Russland zurückkehren zu müssen, quält sie, wegen der Art und Weise, wie Leute dort arbeiten. „Sie sind zu sehr auf schnelles Geld versessen und dabei zu direkt“, sagt sie. Sie hasse die Regierung unter Putin, „aber ich liebe mein Land und Moskau“. Aber genau wie ihre Eltern, wenn diese früher aus der Sowjetunion zu Westaufenthalten reisen durften, sorgt sie sich, „dass, wenn ich zurück in Russland bin, ich dort gefangen bin und nicht mehr raus kann“.

Es ist diese Verunsicherung, die infolge der Skripal-Affäre ins Leben der Russen in London Einzug hält. Persönliche Angriffe oder ähnliches erfährt niemand, aber die Suche nach Ruhe und Idylle, vielleicht einem glücklichen Familienleben, die wird schwieriger. Leeroy Murray, der Sohn der ehemaligen Spionin aus Russland, fühlt sich von dem Diplomatie- und Medienzirkus um Skripal verunsichert. „Mir fehlt die Zeit und das Wissen, um mich damit zu befassen. Doch es hört sich vertraut an, so wie damals in den 1950er Jahren, am Anfang des Kalten Krieges“, beschreibt es Leeroy. Einen Doppelagenten wie Skripal, da ist er sich sicher, hätte sein Vater nicht gutgeheißen. „Mein Vater forderte den Tod für Verräter, denn einige seiner britischen Freunde wurden vom KGB umgebracht“, sagt Leeroy. Für einige Monate habe die Sowjetunion versucht, seinen Vater als Doppelagenten zu rekrutieren. „Er verweigerte es und nahm die Konsequenzen in Kauf.“

Erinnerungen an den kalten Krieg

Bemängelt die einseitig gegen Russland gerichteten Sanktionen: Livia Pacci von der Beratungsfirma GPW Foto: Daniel Zylbersztajn

Seine Mutter Nora sollte 1940, zu einer Zeit, als die Sowjetunion noch mit Nazideutschland verbündet war, seinen Vater John, der in der Moskauer britischen Botschaft arbeitete, bespitzeln. John kam dahinter. Zusammen beschlossen sie, dem KGB unwichtige Geschichten zu erzählen. Als sich 1941 deutsche Truppen Moskau näherten, wurde die britische Botschaft evakuiert. Aus Archangelsk im hohen Norden erhielt Nora ein Abschiedstelefonat Johns. Leeroy schildert, wie sie sofort nach Archangelsk aufbrach und der Motorschaden des Schiffes, das John außer Landes bringen sollte, das Schicksal der beiden zusammenführte. „Mein Vater und meine Mutter heirateten noch in derselben Woche. Stalin höchstpersönlich genehmigte die Ausreise meiner Mutter. Ich habe noch immer den Brief“, berichtet Leroy. Bei der Weiterreise nach London wurde der Konvoi versenkt, nur das Schiff mit Nora und John blieb verschont, im tiefen Nebel vom Rest abgehängt.

Als die Mutter 1950 ihr Buch über ihre Geschichte herausbrachte und die Zeitungen darüber schrieben, „führte das zu Beschimpfungen auf der Straße und für mich in der Schule. Meine Mutter stand dem immer stolz entgegen, während wir Jungs uns nicht sicher waren, was all das bedeutete.“ Die Mutter hatte keine Angst vor Engländern, sondern vor den eigenen Landsleuten. „Meine Mutter konnte nie die Tür aufmachen, wenn jemand klingelte. Geräusche in der Wohnung machten sie nervös. Viele ihrer Familienmitglieder waren unter Stalin deportiert worden, noch bevor sie meinem Vater kennenlernte.“

Ist die Zeit heute mit damals vergleichbar? Leeroy sieht Ähnlichkeiten. Er greift nach dem alten Buch seiner Mutter und liest den allerletzten Absatz daraus vor. „Das Blut Russlands fließt nach wie vor in meinen Adern und ich bleibe meinem Geburtsland treu. Russland ist größer als das Innenministerium der UdSSR. Es ist größer als Stalin, größer als einst der Zar war. Das wahre Russland, dass ich liebe, braucht keine Geheimpolizei, Konzentrationslager oder Exekutionskommandos, mit der eine Gruppe Männer eine große Nation in Ketten halten kann.“ Leeroy blickt auf. „Russland ist größer als diese Affäre“, versichert er, mit einem Ausdruck der Gewissheit.