Die Qual-Wahl

Die Entscheidung zwischen Angela Merkel und Kanzler Schröder ist ja schlimm genug. Dabei wird schon das Wählen selbst oft zur Qual: Etwa für Rollstuhlfahrer, Sehbehinderte, Obdachlose, Häftlinge und Briefwähler

VON JOSEFINE FEHR, SEBASTIAN KORINTH UND MAREN MEIßNER

Für Behinderte„Barrierefrei“ heißen Wahllokale, in denen auch behinderte Wähler ihr Kreuzchen machen können. Diesen Titel verdient in NRW nach Angaben des Sozialverbands Deutschland (SoVD) aber nur jedes zweite Lokal. Treppen versperren Rollstuhlfahrern den Weg zur Urne. Auch Blinde sind auf Hilfe angewiesen. Wahlautomaten – die in Städten wie Köln oder Recklinghausen den Wahlzettel ersetzten – schaffen neue Probleme, statt das Prozedere zu vereinfachen. Denn bei der Konzeption dieser Automaten sind die Belange der 1,7 Millionen Behinderten in NRW vergessen worden. Wahlschablonen, die blinden Menschen das selbstständige Wählen per Kreuzchen ermöglichen, sind hier nicht zu gebrauchen. Immerhin, die Kommunen wollen nachbessern: Landeswahlamt und Blindenverbände arbeiten daran, eine neue Schablone zu entwickeln. Für Rollstuhlfahrer bleibt ein großer Teil der elektronischen Wahlhelfer unbrauchbar: An vielen Geräten braucht es lange Arme, um selbständig die Bestätigungstaste zu drücken.

Für NichtleserSchätzungsweise vier Millionen Menschen mit Schreib- und Leseproblemen gibt es in Deutschland, und die „haben wegen ihres Informationsdefizits das Gefühl, nicht einschätzen zu können, für wen sie sich entscheiden sollen“, sagt Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung in Münster. Tagezeitung lesen oder sich im Internet über Wahlprogramme informieren – für Analphabeten unmöglich. Bleiben Radio und Fernsehen. Die können das Informationsdefizit aber nicht kompensieren. Zu schnell rauschen Wörter, Namen und Zahlen vorbei und es gibt keine Möglichkeit Sätze zur Not dreimal zu lesen. „Politik muss sich verständlich machen“, fordert Hubertus.

Für Obdachlose

Obdachlose müssen nachweisen, dass sie sich seit drei Monaten in einer Stadt aufhalten und eine Kontaktadresse angeben, wenn sie ins Wählerverzeichnis aufgenommen werden möchten. Die Resonanz ist gering: In Köln ließen sich elf Obdachlose registrieren, in Düsseldorf 25 – nur ein Bruchteil derer, die auf der Straße leben. Beide Städte machten mit Rundschreiben auf die Möglichkeit aufmerksam, ohne festen Wohnsitz zu wählen. Trotzdem: „Es ist einfach wenig Thema“, sagt Rosi Herting von der Obdachloseninitiative „Benedikt Labre e.V. - Oase“ in Köln. „Verschwindend wenige“ Obdachlose würden tatsächlich vom Wahlrecht Gebrauch machen.

Für StrafgefangeneAuch Insassen der Justizvollzugsanstalten können, sofern sie gemeldet sind, Briefwahl beantragen. Die Stadt Bielefeld, die zu jeder Wahl Briefwahlanträge an die JVAs der Stadt verschickt, bekam fünf Rückmeldungen – zwei davon außerhalb der Frist. „Das ist oft Desinteresse am täglichen Leben“, sagt Herbert Paffrath, Direktor der JVA Essen, „viele haben andere Dinge im Kopf“. Zudem gibt es einige Häftlinge, die gar nicht über die Justizvollzugsanstalt wählen, in der sie einsitzen. „Manche bekommen ihre Wahlunterlagen an ihren Wohnsitz“, so Frank Blumenkamp vom Landesjustizvollzugsministerium. Dies betrifft oft diejenigen, die kurze Haftstrafen absitzen. „Die machen vielleicht auch eher von ihrem Wahlrecht Gebrauch, als diejenigen mit langen Strafen“, so Blumenkamp.

Für BriefwählerEinen genauen Blick auf den Wahlschein sollten Briefwähler werfen: Sind die KandidatInnen wirklich die des Wahlkreises? In Dortmund wurden rund 25.000 Wahlbriefe in den falschen Bezirk verschickt. Weil Stimmen für den falschen Kandidaten ungültig wären, wird die Stadt versuchen, ihre Wähler über die Pannen zu informieren. Wer nicht sicher ist, ob er seine Unterlagen richtig ausgefüllt abgeschickt hat, kann seine Stimme für ungültig erklären und neu wählen. Wer erst nach der Wahl aus dem Urlaub zurückkommt, hat Pech gehabt.