Vom Selbstgespräch der Deutschen

Ein Flüchtling geht unter in den Meinungen über ihn: In Maik Siegels Debüt „Hinterhofleben“ kommen alle zu Wort, nur nicht der, um den es geht

Maik Siegel: „Hinterhof­leben“. Divan Verlag, Kassel/Berlin 2017, 300 S., 15,90 Euro

Von Michael Watzka

Es ist einer der Gründe für den Erfolg der AfD, dass in Deutschland seit 2015 zwar viel über Flüchtlinge, aber oft nicht mit ihnen gesprochen wird. Wie dieses Selbstgespräch auch im kleineren Maßstab ein fatales Ende nehmen kann, zeigt ein kürzlich erschienenes Roman­debüt. Statt vom Schicksal seines aus Syrien über Nordafrika nach Europa geflüchteten Protagonisten erzählt der 1990 geborene Autor Maik Siegel in „Hinterhofleben“ lieber von denen, die dieses Schicksal ausgerechnet am vermeintlich sichersten dieser Orte besiegeln: den Deutschen.

Die Ausgangsbasis des Romans ist schnell erzählt. Eine Hausgemeinschaft im Prenzlauer Berg, wohnhaft an der Nummer 68, beschließt, einen syrischen Kriegsflüchtling aufzunehmen. Die „68er“, das sind unter anderen ein schwuler jüdischer US-Expat, zwei von den üblichen Vorbehalten geplagte Alteingesessene, die obligatorischen Helikoptereltern, ein zum Zynismus neigender Bayer und eine Einwandererfamilie aus Kenia.

Und weil über all dem im Hof die, na klar, nur scheinbar deutsche Linde als Metapher wacht, stellt sich bei so plakativer Vielfalt zunächst Happy-End-Verdacht ein. Doch weit gefehlt: Zwar geben anfangs alle ihr Bestes, sich auf den Neuen einzustellen, doch schon kurz nach dessen Ankunft gleitet diese Unternehmung ins Absurde ab. Dann nämlich, wenn Siegel abwechselnd aus der Warte einzelner Bewohner erzählt, wie sich der Syrer Samih im Haus einrichtet, ohne dabei ein einziges Mal zu Wort zu kommen.

Absurd, zumal die Sprachbar­rie­re nur anfangs ein Hindernis ist. Doch Samih, bis weit über die Hälfte des Buchs hinaus eine stumme Rolle, bleibt auch trotz Deutschkurs weiter nichts als Projektionsfläche. Da ist etwa die Förderschullehrerin Inga, die die „Rettungsmission“ ini­tiiert und in ihrem Schützling partout den hilfsbedürftigen Exoten sieht. Gerecht wird sie ihm dadurch genauso wenig wie die, denen es der wortkarge Mitbewohner wahlweise an Dankbarkeit oder „dramatischer“ Aura fehlen lässt.

Schnell verbreiten sich Gerüchte. Der schweigsame Syrer, heißt es, sei Anhänger der Assad-treuen Minderheit. Während die einen Angst um die Tochter haben, andere Familiennachzug fürchten, gerät nicht nur das „sichere Spielzeugleben“ der 68er allmählich unter die Ränder, sondern auch Samih in all dem Gerede über, aber nie mit ihm: „So drehten sie sich im Kreis, um Symp­tome und Ursachen, eingetrichtert zunächst durch Fernsehbilder und Zeitungsberichte, schließlich lebendig zwischen ihnen gelandet in Person eines stummen Mannes, der nichts zu sagen hatte zu dem, was diese Menschen über seinesgleichen zu erzählen wussten.“

Lediglich der kleine Tumaini ermittelt – nach dem Vorbild seiner Helden vom TKKG – in der Sache Flüchtling und sitzt, ein schönes Bild, an einem regnerischen Sommernachmittag wortlos neben den stillen Syrer im Hof. Zwar erweist sich auch der Hauszyniker Ott am Ende noch als Menschenfreund und befragt den Syrer zu seinem Schicksal – doch da ist es bereits zu spät: Samihs Geschichte geht, als plötzlich die Polizei im Haus steht, abermals in den Befindlichkeiten der Bewohner unter.

Zwischen Frühjahr und Herbst entwickelt sich so ein Krimi, den am Ende nicht alles – und alle – im Haus unbeschadet überstehen –, die Wandlung einiger Bewohner inbegriffen. So wird, als sich Neonazis an Samihs Fersen heften, aus dem Polizeifunkmithörer Günther ein Helfer in der Not, der den neugewonnenen Skatbruder kurzerhand bei sich einquartiert. „Niemand verändert sich von jetzt auf gleich“, heißt es, „er hatte nur etwas entdeckt, das schon immer in ihm gesteckt hatte.“

Sätze wie diese zeigen zugleich die Schwäche des Romans: Während sich Schreibende meist auf „zeigen“ oder „erzählen“ als Verfahren verlagern, nutzt Siegel stets beide; anstatt auf tiefenscharfe Figuren greift er zu oft auf eindimensionale Charakterisierungen zurück. Zusammen ergeben die am Ende eine Melange aus Klischee und Nachrichtenlage, die zuweilen zwar etwas redundant wirkt, letztlich aber gar nicht so weit an der bundesdeutschen Realität vorbeigeht.

Denn ein Happy-End gibt es nach 250 Seiten nicht. Es ist eine Stärke des Buchs, dass sich Siegel via Samih nicht an der Aneignung einer Perspektive versucht, die nicht die seine ist. Stattdessen zeigt er eine Gesellschaft, der es in ihrer Mischung aus ausgestellter Hilfsbereitschaft und insgeheimen Vorbehalten ähnlich schwerzufallen scheint, sich in der neuen Realität einzurichten, wie dem Syrer Samih – und die dabei fulminant scheitert.