: Die schönste Rolle der Kindheit
Kino der Kindheit (7): Als man die Pubertät kaum noch erwarten konnte, war das Kino der beste Ort, sich auf das Leben vorzubereiten. Mit überraschend langfristigen Folgen
Der Saal hieß „Kleines Haus“, und ich nenne ihn noch heute so, obwohl der Kinobetreiber ihn schon vor Jahrzehnten in „Kino 4“ umbenannt hat. Das „Kleine Haus“ war ein Vorführraum im Kino am Karlstor, am Münchner Stachus also. Um es schlicht zu sagen: Ich bin in diesem Filmtheater aufgewachsen.
Es waren die 80er-Jahre – das „Dschungelbuch“, das nach fast 15 Jahren zu Weihnachten wieder in die Kinos kam, war viel sensationeller als das Winterprogramm des Circus Krone und zog uns Kinder ins Kino, mich gleich viermal in einer Woche. Später lernten wir das erste Gruseln mit „Die unendliche Geschichte“ und merkten das erste Mal, während sich Thomas Gottschalk und Mike Krüger durch „Die Supernasen“ blödelten, dass vieles ziemlicher Schrott ist, was auf der Leinwand gezeigt wird, während anderes einen Vorgeschmack aufs Leben bieten konnte. Da hatte uns die Platzanweiserin nicht aufgehalten, als im „Großen Haus“ „La Boum – Die Fete“ gegeben wurde, da hatte sie uns nicht während der Vorführung aus dem Film gezogen, da hatte es auch keinen warnenden Zeigefinger gegeben, als wir das Kino verließen, verwirrt nicht nur wegen des Films, sondern gleichzeitig auch wegen der verschwitzten Stille im Publikum, für das die Platzanweiserin samt und sonders ein Auge zugedrückt haben musste. Wie seltsam, dass es eine Zeit gab, zehn war ich da, in der man die Pubertät kaum erwarten konnte.
Der Kinobetreiber – Herr Pietsch, der ständig Reithosen trug, war wohl einer der größten Wohltäter meiner Kindheit und so etwas wie ein Bekannter meiner Eltern. Deshalb lag in einer Nachttischschublade meines Vaters zwischen Manschettenknöpfen, einer Uhr und einem handgeknüpften Rosenkranz immer eine Rolle Tickets. „Freikarte“ stand auf jedem einzelnen der orangefarbenen Abschnitte. Schon wegen dieses Platzes war sofort klar, dass die Rolle ein großer Schatz war, ein sehr großer Schatz sogar, denke ich heute noch. Die Rolle hielt bis ans Ende meiner Kindheit.
Herr Pietsch muss ein „007“-Fan gewesen sein. Leider habe ich ihn nie gefragt, warum. Wahrscheinlich, weil sich die Frage bald erübrigt hatte. Weil ich auch Fan wurde. Ich konnte gar nicht anders. Denn Herr Pietsch zeigte im „Kleinen Haus“ James Bond, ununterbrochen und im wöchentlichen Wechsel, von der 17- bis zur 22-Uhr-Vorstellung. Und wenn ich nichts Besseres vorhatte, dann ging es eben in „Dr. No“, „Goldfinger“ oder „Diamantenfieber“ – und ich hatte immer öfter nichts anderes vor. Vielleicht auch, weil mich nach den ersten Filmen ärgerte, gewartet zu haben, bis ich vorschriftsmäßig zwölf Jahre alt geworden war. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass es ins „Kleine Haus“ durch einen schummrigen Hintereingang ging, an einem Nachtklub vorbei – und oben auf der Straße ging das Kinoschild im Blinken der Tabledance-Reklame fast verloren. Zu James Bond jetzt nur noch so viel: The one and only heißt Sean Connery. Und klar: Wer regelmäßig an einem Nachtklub vorbei in „007“ ging, für den war „La Boum 2“, der wenig später ins Kino kam, nur noch Kinderkram.
Die „007“-Reihe wurde in den Neunzigern leider abgesetzt, auch das „Kleine Haus“ existiert leider nicht mehr, ein Multiplex in der Nähe bedeutete vor ein paar Jahren das Aus für das ganze „Kino am Karlstor“. Die Säle werden heute als Kleiderlager benutzt. Nur eins hat sich nicht verändert: Immer, wenn ich nichts Besseres vorhabe, gehe ich in die Videothek und hole mir einen von den alten James Bonds.
JÖRN KABISCH
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