Martin Reichert über LANDMÄNNER
: Perlentauchen in der Uckermark

Zum Fetisch-Fest nach Berlin oder doch lieber eine Wallfahrt zu Angela Merkel nach Templin? Deutschland im Wandel

Seitdem die Großmutter tot ist, können wir im Prinzip tun und lassen, was wir wollen. Wir hätten sogar zu Wowis Fetisch-Party in Berlin gehen können, niemand hätte mit uns geschimpft. Stattdessen haben wir unserem Besuch aus Paris in aller Ernsthaftigkeit die Perle der Uckermark gezeigt. Templin. So weit ist das nicht, und wo sonst könnte Beatrice das zukünftige Deutschland begreifen, Deutschland nach dem Wechsel, wenn nicht am Wohnort der zukünftigen Kanzlerin. Wir machten uns auf den Weg, mein Freund übrigens in Lederhosen.

Am Anfang war gar nichts zu spüren, sogar das Autoradio hatte keinen Empfang. Die durch linke Verwahrlosung gezeichneten Straßen rüttelten unsere Gesichtszüge durch. Hinter jedem zweiten Alleenbaum ein Warnschild: Vorsicht kreuzende Otter, Vorsicht Krötenwanderung, Achtung Mopsfledermaus. Gefühlt mehr Babsie Höhn als Angie Merkel.

Je näher wir jedoch an Templin herankamen, desto apricotfarbener wurden die Laternenpfähle der brandenburgischen Straßendörfer. Die Kandidatin lächelte auf adrette Rentner, die auf den Bänken vor dem Haus ihre Renten verzehren. Auf wackere Kleinfamilien, die sich mit roten Wangen gegen die Demoskopie stemmen. Auf ein platt gefahrenes Eichhörnchen am Wegesrand. Die Mitte der Gesellschaft und sie mitten darin, alles im Vorbeifahren. Geschwindigkeit. Wandel. Wechsel.

Dann plötzlich das nächste Dorf: Hammelspring! Jetzt konnte es doch nicht mehr weit sein. Abstimmung im Wasserwerk, Bonner Republik, Kohls Mädchen. Da war doch was, und dann erst das nächste Dorf: Hindenburg! Der Mantel der Geschichte streifte uns nun recht heftig, Umzug nach Berlin, Deutschland einig Vaterland. Kanzlerin, womöglich eisern.

Und richtig, schon bald waren wir in Templin, Marktplatz. Vielleicht würde sie ja gleich ganz volksnah vorbeischlendern und sich zu uns gesellen. Mal einen Kaffee trinken mit zwei netten Homos und einer ebenso netten wie attraktiven Französin. Frau/Osten trifft Randgruppe/Ausländer: „Nein, ich werde jetzt keinen Kaffee mit Ihnen trinken“, hatte sie neulich einen Herrn mit gleichem Anliegen beschieden, und das vor laufenden ZDF-Kameras. Würde sie das mit uns auch machen? Uns im Regen stehen lassen? Als die Bedienung den Kaffee verschüttete, machte Beatrice ein Gesicht, als sei ihr gerade die Achse Berlin-Paris-Moskau auf die Füße gefallen. Der Kuchen jedoch war für ostelbische Verhältnisse geradezu zauberhaft: Stachelbeer-Baiser-Torte, die es wahrlich verdient hätte, nach dem Wechsel den Namen Kanzlerin-Schnitte zu tragen. Dennoch schwante uns allmählich, dass wir womöglich vergeblich hierher gekommen waren, denn wir waren nicht allein. Fahrzeuge mit Kennzeichen aus ganz Deutschland blockierten den Markplatz, überall sah man Menschen, die auf der Suche waren. Bewaffnet mit Digitalkameras schienen sie bereit, sich jederzeit vor einen nahenden Limousinen-Konvoi zu werfen, um ein Autogramm zu bekommen. Die Nachhut der Journalisten, die in den letzten Monaten Templin unsicher gemacht hatten. Was hatten wir eigentlich erwartet? Das wir die Einzigen waren, die wissen wollten, wie das so wird mit dem Wechsel? Sie kam nicht.

Beatrice’ Mundwinkel wirkten plötzlich seltsam steil heruntergezogen. Ja, was hätten wir denn machen sollen? Zum Schiffshebewerk Niederfinow fahren oder was? Das steht vielleicht für den Slogan „Es gibt keine Probleme, nur Lösungen“, aber nicht für „Deutschland braucht den Wechsel“. Erst als wir wieder zu Hause in unserer kleinen Ackerbürgerstadt vor den Toren Berlins waren und die Glotze anschalteten, wurde klar: Wir hätten sie gar nicht treffen können, weil sie gar nicht in Templin war an diesem Tag. Sie musste doch zum Fernsehduell nach Berlin, da hat sie doch keine Zeit, auf der Terrasse zu sitzen und alte Fotos einzusortieren oder Kaffee trinken zu gehen.

Hätten wir ja auch gleich zur Fetisch-Party gehen können. Deutschland vor dem Wechsel halt.

Fragen zu Templin? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL