„Wahlalter ab null“

Marcus Lehmann, Erfinder der Jugendwahl „U 18“, will gleiche Rechte für Erwachsene und Kinder. Seine Erfahrung: Jugendliche interessieren sich sehr wohl für Politik, Politiker jedoch nicht für sie

INTERVIEW KATHARINA RALL

taz: Herr Lehmann, welcher Partei werden die Jugendlichen diesmal ihre Stimme geben?

Marcus Lehmann: Das wird ähnlich sein wie bei der Bundestagswahl 2002: Die große Mehrheit wählte SPD, Grüne und CDU waren fast stimmengleich. Die CDU ist für Jugendliche weniger attraktiv, weil sie sich nicht so jugendlich gibt wie die SPD. Die FDP hätte es 2002 nicht mal in den Bundestag geschafft.

Die NPD verteilt wieder Schulhof-CDs. Ist das gefährlich?

Nein, ich bin ziemlich sicher, dass es bei den Jungwählern keinen Rechtsruck geben wird. Die U 18-Wähler gehen sehr verantwortlich mit ihrer Stimme um, sie wählen nicht Protest, sondern setzen sich mit den Programmen auseinander. Wenn man davon ausgeht, ist U 18 demokratiestärkend.

Kann die Linkspartei bei den Jugendlichen ein gutes Ergebnis einfahren?

Die Linken haben es gut drauf, die Jugend anzusprechen. Ich bin selbst neugierig, ob sie es tatsächlich bundesweit schaffen, sie zu überzeugen. Vor drei Jahren schaffte die PDS in Berlin immerhin 11 Prozent.

Was überzeugt junge Wähler?

Wichtig sind ihnen klare Aussagen, klare Ergebnisse. Fragen wie: Wird meine Jugendeinrichtung zugemacht? Meine Schule hat beschissene Klos, wer macht was dagegen? Auch Einflussnahme spielt eine Rolle. Die Eltern beeinflussen ihre Kinder. Umgekehrt werden sie von den Kindern beeinflusst.

Waren Sie selbst als Jugendlicher politisch aktiv?

Nein, ich habe erst mit 18 begonnen, politisch zu werden. Als Pädagoge hatte ich dann das Bedürfnis, den Jugendlichen die Politik nahe zu bringen. Die erste U 18-Wahl in einem Jugendhaus in Berlin-Mitte hatte eine unglaubliche Resonanz, weil im Vorfeld so viel darüber diskutiert wurde. Der nächste logische Schritt war: Wir machen das nicht nur in einer Einrichtung, sondern überzeugen andere mitzumachen. Die Wahl 2002 hatten wir bereits berlinweit geplant – mit über 20.000 Kindern und Jugendlichen. Jetzt haben wir ein leistungsfähiges Netzwerk, das die Jugendwahl bundesweit organisiert. Unsere Erfahrung ist, dass Jugendliche ein ungeheures Interesse an Politik haben.

Umso mehr verwundert es doch, dass die Wahlbeteiligung bei den 18- bis 21-jährigen Erstwählern in den vergangenen 20 Jahren stetig gesunken ist. Woran liegt das?

Junge Menschen werden erst mit 18 von der Politik angesprochen und als Wähler entdeckt. Das ist zu spät. Sie werden geprägt von einem gesellschaftlichen Frust, nehmen die Politik aber nicht als ein Thema wahr, mit dem sie sich beschäftigen müssen. Plötzlich sind sie 18 und müssen wählen. Das Entscheiden ist wirklich schwierig, wenn sie sich vorher nie damit beschäftigt haben.

Sind die jungen Wähler nicht demotiviert, wenn sie merken, dass ihre Stimme bei der richtigen Wahl gar nicht zählt?

Die Begeisterung ist einfach zu entfachen. Beispielsweise mit dem ARD-Spot „Die Sendung mit der Maus“. Da gibt es dann die Mauspartei, die Elefantenpartei und die Partei von Hein Blöd. Daran zeigt sich: Die Erststimme ist die Maus, mit der zweiten Stimme wählt man die orange Partei. Die Kinder kapieren das so gut, dass sie später ihren Eltern erklären, was die Erst- und was die Zweitstimme ist. Wir machen U 18 nicht umsonst neun Tage vor der Bundestagswahl.

Ursprünglich war das Ziel der Jugendwahl auch die Herabsenkung des Wahlalters. Gilt das noch?

Unser Ziel ist nicht verloren gegangen, es ist nur ein bisschen kleiner geworden. Es sollte nicht ganz oben auf unserer Liste stehen, um nicht die Leute zu verprellen, die sich mit dieser Idee schwer tun. In Berlin hat sich schon einiges getan: Mit den neuen Parteien im Abgeordnetenhaus steht fest, dass es 2006 Wahlen für 16-Jährige auf kommunaler Ebene geben muss. Da sind wir nicht unschuldig dran.

Welches Wahlalter wäre Ihr Traum?

Ich habe keine Schwierigkeit mit einem Wahlalter ab null. Ich möchte, dass jedes Kind das gleiche Recht hat wie ein Erwachsener. Das Kind darf genauso entscheiden, ob es wählen möchte oder uninteressiert ist. Genau das machen die Eltern auch.

Wie soll das gehen: Wählen die Eltern für ihr Kind, solange es klein ist?

Nein, ich bin gegen eine Stellvertreterwahl. Die Kinder sollen zur Wahl gehen dürfen, sobald sie selbst wollen und können. Je früher Kinder wahlberechtigt sind, desto mehr kümmern sich Politiker um junge Menschen. Wenn das Wahlalter gesenkt würde, hätten wir ganz andere Politik.

Marcus Lehmann, 42, arbeitet im Hauptberuf als Jugendhilfeplaner beim Jugendamt Berlin-Mitte