„Wahlforscher, haltet den Ball flach!“

Dass Schwarz-Gelb die Wahl schon gewonnen hat, steht seit Juli in jeder Zeitung. Aber das ist falsch. Wer versteht, wie Wahlumfragen funktionieren, weiß auch, warum das so ist. Ein Interview mit dem Politologen Thomas Gschwend

taz: Herr Gschwend, Sie haben mit einem Kollegen ein statistisches Modell entwickelt, mit dessen Hilfe Sie vorhersagen, dass die rot-grüne Bundesregierung bei den kommenden Wahlen 42 Prozent der Stimmen erreichen wird – nach Ihrer Meinung genug, um eine schwarz-gelbe Mehrheit zu verhindern. Warum die Mühe? Es gibt doch genug Umfragen?

Thomas Gschwend: Wenn man das Gefühl hat, dass in der öffentlichen Debatte etwas schief läuft, und man die sachliche Kompetenz besitzt, dazu etwas zu sagen, dann sollte man sich zu Wort melden.

Was läuft denn schief?

Der Umgang mit den Umfragen. Da wird ein großes Gedöns gemacht, ob eine Partei in den Sonntagsfragen einen Prozentpunkt hoch- oder runtergeht – das ist doch Mist. Das wird völlig überbewertet.

Sind die Umfragen Unsinn?

Nein, auf keinen Fall. Man darf nur nicht vergessen, dass ein Prozentpunkt gar nichts aussagt. Gar nichts.

Die Umfragen können aber Trends abbilden?

Ein Prozentpunkt ist kein Trend, das ist ein statistischer Fehler. Auch wenn dieser eine Prozentpunkt Veränderung mehrmals hintereinander gemessen wird, ist es immer noch kein Trend. Bei zwei oder drei Prozentpunkten mehrmals hintereinander würde ich sagen, da ist vielleicht irgendetwas im Busch. Vorher jedoch würde ich lieber meine Klappe halten und es auf keinen Fall entsprechend kommentieren. Und genau diese Wahrnehmung fehlt im allgemeinen Verständnis, und es legt keiner Wert darauf, dass es besser wird. Da lebt schließlich eine ganze Industrie davon, Umfrageinstitute genauso wie Medien und Politiker.

Die Umfrageinstitute nennen doch die Irrtumswahrscheinlichkeit ihrer Messungen. Aber Sie meinen, dass dies in der Öffentlichkeit nicht ausreichend wahrgenommen wird?

Genau. Die Öffentlichkeit kennt sich mit solchen statistischen Unsicherheitsbereichen nicht aus und glaubt, man könne daraus mordswas ablesen. Das ist auch kein Wunder bei den Kommentaren in den Medien. Die sind einfach Humbug. Man kann sich nicht hinstellen – wie es im Juli geschehen ist – und sagen, die Wahl sei schon entschieden, Schwarz-Gelb wird es machen. Da haben wir mal auf unser Modell geguckt und gedacht, hmm, bei uns sieht das anders aus. So etwas kann man nicht tun. Das ist nicht seriös.

Spiegelt sich in solchen vorschnellen Interpretationen vielleicht ein blindes Technikvertrauen?

Das könnte man, glaube ich, eher uns vorwerfen, da wir ein statistisches Modell rechnen und glauben, mit dessen drei Faktoren alles erklären zu können.

Nein, ich finde einfach, dass dieses Jonglieren mit Statistiken bei uns keine Tradition hat. In den USA wissen die Leute so etwas besser einzuschätzen. Dort können sie mit einer Regenwahrscheinlichkeit etwas anfangen. Hier kann mir keiner erklären, was 70 Prozent Regenwahrscheinlichkeit denn eigentlich bedeutet.

Es gibt hier das Sprichwort: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Daraus spricht doch eine erhebliche Skepsis …

Ich würde sagen, daraus spricht eine erhebliche Ignoranz. Das zeigt doch nur, dass die Leute nicht mit Statistiken umgehen können. Der Glaube, es sei so einfach und daher könne es schnell für jedwede Ziele verändert werden, sagt doch eher etwas über die Nutzer der Statistiken aus als über die Urheber. Statistik ist ein unheimlich kompliziertes Konzept, und die Frage ist, wie man es den Menschen vermittelt, damit sie verstehen, was aussagekräftig ist und was nicht.

Ist solche Interpretation nicht nur der Versuch der Menschen, die unglaubliche Unsicherheit der Zukunft in den Griff zu bekommen?

Ja, aber es wäre doch schön, wenn man es thematisiert und sagt, dass ein Punkt hoch oder runter eben nichts über die Zukunft aussagt. Ich verstehe das natürlich, das ist ein strategischer Umgang mit Statistik. Sie wird instrumentalisiert.

Machen Wahlforscher Politik?

Ja und nein. Nein, weil die Umfrageinstitute natürlich einen Reputationsverlust fürchten müssen. Es geht bei ihnen um Genauigkeit. Die ist die beste Werbung – und Werbung brauchen sie. Politik ist für die Institute schließlich keine Einnahmequelle …

sondern?

Nun, dank der dabei erworbenen Reputation bekommen sie große Aufträge von DaimlerChrysler und können richtig Geld verdienen. Doch Wahlforscher machen auch Politik, wenn zum Beispiel Institute ihre erhobenen Daten überinterpretieren. Oder wenn Journalisten oder Politiker hanebüchene Schlussfolgerungen daraus ziehen. Deswegen wollen wir auch davor warnen und sagen: Leute, Ball flach halten!

INTERVIEW: KAI BIERMANN