Spielend vor dem Mainstream flüchten

Frank Gratkowski ist ein gefragter Jazz-Saxofonist. Er beklagt den Niedergang der Kultur. Dagegen hilft: Live spielen. Ab heute ist er in NRW unterwegs

„Ich kann besser als Bandmitglied in Holland arbeiten, als hier als Leader“

AUS KÖLN HOLGER PAULER

Köln Porz, zwölf Uhr mittags. Ein altes Zweifamilienhaus in der Sackgasse. Seiteneingang. Die Klingel: 80er Jahre Atari-Sound. Hier wohnt einer der profiliertesten Jazzmusiker des Landes. „Oh, schon Montag?“, werden wir begrüßt. „Ich bin gerade erst aus dem Bett gefallen, aber geht schon mal in den Garten, ich zieh mir nur kurz noch was an.“ Überall in der Wohnung sind Notenblätter verteilt, auf dem Boden liegt ein E-Bass, „nicht drauftreten“. Er entschuldigt sich. „Meine Frau ist gerade im Urlaub.“ Auf der Terrasse stehen zwei Matratzen. „Wir schlafen oft draußen, ich Liebe den Geruch der Natur am Morgen“, sagt er. Frank Gratkowski sucht hektisch seine Brille, tritt dabei eine halb volle Gießkanne die Kellertreppe herunter. So stellt man sich einen Freejazzer vor: unaufgeräumt und hektisch.

„Mit der Kultur ist es in Köln nicht mehr so, wie ihr euch das vielleicht vorstellt“, eröffnet er das Gespräch. Er setzt dabei seine schwarze Hornbrille auf sein schmales Gesicht. Die kurzen Haare schaffen es nicht bis zur faltigen Stirn. „Damals in den 80ern gab es noch eine Szene, aber jetzt...“ Rhenania, das alte Stollwerk. „Damals gab es mal ein 48-Stunden John Cage-Hapening, heute undenkbar.“

Frank Gratkowski ist der Stadt trotzdem treu geblieben. „Aus Gewohnheit!“ Außerdem sei man ja schnell in Holland oder Belgien, da wo man als Musiker „noch richtig Geld verdienen kann“. So schlimm kann es hier ja auch nicht sein. Im Frühjahr bekam Gratkowski den angesehenen Jazzpreis des Südwestrundfunks und des Landes Rheinland Pfalz. 10.000 Euro. „Davon kann ich endlich meine Musiker bezahlen“, lacht er. FreeJazz does not sell. Passt die Formel FreeJazz überhaupt?

„Nennt es frei improvisierte Musik oder wie auch immer“, sagt Gratkowski. Er rutscht auf seinen Gartenstuhl hin und her, summt Melodien. Seit mehr als einem Jahrzehnt gehört Frank Gratkowski zur Kölner Szene. Auch in Deutschland, in Europa, weltweit ist er ein Begriff. Eine Szene, die sich abseits vom Jazz-Mainstream – und der ist schon recht überschaubar – eine Nische geschaffen hat. In Berlin gibt es das Total Music Meeting, in Dortmund das Domicil. Alles ist über den Kontinent verteilt: Oslo, Zürich, Amsterdam, kleine Festivals, Klubs, es wird weniger.

Auch in Köln. Vor 20 Jahren entstand hier die JazzHaus-Initiative, ein Zusammenschluss von Jazzmusikern, der sich um den Kölner Stadtgarten herum entwickelte. Der Stadtgarten widmet sich mittlerweile dem Mainstream, Weltmusik und Dancefloor. Die lokale Szene, zumindest im Bereich freier und neuer Musik, wanderte Richtung „Loft“, am Rande Ehrenfelds. „Die Kölner stecken ihr Geld lieber in große Projekte“, sagt Gratkowski. Die Stadt oder der WDR unterstützen die Musiktriennale. Der Sender schneidet auch Konzerte im Stadtgarten mit: Die Brecker Brothers oder James Carter. Bekannte Namen. Der Rest muss ohne Sponsoren auskommen.

„Kein Cent für das Loft“, sagt Einzelkämpfer Hans-Martin Müller. Er betreibt das Loft in der dritten Etage eines Fabrikgebäudes. Eine schmale Treppe führt nach oben. Fenster bis zum Boden. Panoramablick über die Ehrenfelder Hinterhöfe. 100 Leute passen dort rein. Völlig ausreichend. Bei Bedarf wird bestuhlt. Peter Brötzmann, der Brite Evan Parker, beides Pioniere des europäischen FreeJazz sind hier aufgetreten. „Bei Stockhausen musste mal wegen Überfüllung geschlossen werden“, so Müller. Die Examenskonzerte der Musikhochschule Köln finden hier ebenfalls statt. Außerdem: Das James-Choice-Orchester, quasi die Hausband des Loft. Vier Leader, darunter auch Frank Gratkowski, kümmern sich um den musikalischen Nachwuchs. „Das Loft ist ein Kleinod in der deutschen Jazzlandschaft“, sagt Frank Gratkowski. Im Mai dieses Jahres gab das Orchester umjubelte Konzerte auf dem NewJazz-Festival in Moers.

Überhaupt das Moers Festival: Gratkowski, das Loft, die gesamte Kölner Szene wurde dort einem internationalen Publikum vorgestellt. Festivalleiter Burkhard Hennen lud seinen alten Moerser Kumpel und Weggefährten Hans-Martin Müller erstmals im Jahr 1995 zum so genannten „Loft-Exil“-Projekt ein. Drei Tage lang durften die Musiker experimentieren, diskutieren, spielen. Sieben Auflagen folgten. In diesem Jahr vermutlich die letzte. Burkhard Hennen hörte nach 33 Festivaljahren auf, Nachfolger wird Rainer Michalke, Chef des Kölner Stadtgartens. Auf die Konkurrenz aus der eigenen Stadt wird er vermutlich verzichten.

Auch für Frank Gratkowski ein Problem: Er war immer in Moers dabei. Vor zwei Jahren testete er mit seinem Doppelquartett die Belastbarkeit des alten Barocksaals der Moerser Musikschule – freie Improvisation bis an die Schmerzgrenze. Unverstärkt Richtung Tinnitus. Das Ergebnis der drei krachigen Tage wurde vom renommierten britischen Jazzlabel Leorecords auf CD gebrannt. 1.000er Auflage. „Wenn es gut läuft, gibt es eine zweite oder dritte Auflage“, lacht Gratkowski. Bislang lief es meist nicht gut. Immerhin: Eine ältere CD soll demnächst ihre erste Neuauflage bekommen. „Leben kann man von den Verkäufen aber nicht.“

Mit den Konzerten verhält es sich ähnlich. „In Deutschland ist es besonders schwierig“, sagt Gratkowski. Es gibt kaum Auftrittsmöglichkeiten und keinerlei Förderungen. „Ich kann besser als Bandmitglied in Holland arbeiten, als als Leader in Deutschland“, sagt Gratkowski. In Holland gibt es die „BIM“, eine staatliche Stiftung zur Unterstützung von Künstlern und Musikern, in der Schweiz die „Pro Helvetia“ und in Deutschland: Fehlanzeige. „Ich bin vor Jahren in Vancouver aufgetreten. Das dortige Goethe-Institut hat Reise und Unterkunft bezahlt. So konnten die Musiker von der Gage leben“, sagt Gratkowski. Mittlerweile zahlt das Goethe-Institut nicht mehr und Vancouver muss auf Gratkowski und Kollegen verzichten.

Gratkowski begann spät. Zum 15. Geburtstag gab es das erste Saxophon. „DDR-Bauweise“. Gitarre und Co brachten es nicht. Ein Jahr später schenkten die Eltern ihm die ersten Saxofonstunden. „Der Lehrer hat mich bald weggeschickt, er meinte, er könne mir nichts mehr beibringen“, sagt der Autodidakt. Zu der Zeit hat er täglich sechs, sieben Stunden Musik gehört: Genesis, T. Rex, Santana, später dann die Fusion-Schiene mit Weather Report und Chick Corea. „Der erste große Einfluss war Charlie Mariano, später dann Ornette Coleman.“ Harmolodics und Freejazz. „Ich wollte verstehen, was sie mir sagen, ich mochte den erzählerischen Aspekt der Musik. Anfangs hatte ich überhaupt keinen Plan davon, irgendwann hatte ich dann auch etwas zu erzählen.“ Später erfuhr Gratkowski, dass Tonleitern auch aus halben Tönen bestehen.

Seine Lehre als Elektrogerätetechniker wurde unwichtiger. Sessions standen im Vordergrund. Blues, Reggae, Dixieland. „Viele Stücke kannte ich gar nicht und ich dachte, es reicht, wenn ich einfach Soli in der jeweiligen Tonart dazu spielen würde. In Hamburg galt ich irgendwann als Sessionschreck“, lacht Gratkowski. So konnte es nicht weiter gehen: In den nächsten Jahren standen der Umzug nach Köln und täglich neun Stunden Üben auf dem Programm, abends ging es dann zur Session. „Einen Punkt, wo das Lernen aufhört, gibt es nicht. Man muss immer in Übung bleiben. Irgendwann war ich in der Lage, Solokonzerte zu spielen.“ Das Interesse an neuer Musik stieg, freie Improvisation, mathematische Konzepte, auch der Einfluss von Literatur: James Joyce. „Nur kein Mainstream.“ Der Erfolg ist trotzdem da. Nur er lässt sich nicht in Zahlen messen. Mehr als 100 CDs, auf denen Gratkowski mitspielte. „Meine besten Konzerte habe ich vor drei Leuten gegeben, in intimer Klubatmosphäre, das könnte keine goldene Schallplatte aufwiegen.“

Aktuell ist Frank Gratkowski im Trio mit der französischen Bassistin Joelle Leandre und dem Bochumer Schlagzeuger Martin Blume unterwegs. Heute Abend in Bielefeld, am Wochenende in Bochum und Köln. Zwischen Kammermusik und freier Improvisation. „Wir proben kaum, aber wir kennen uns schon so lange, vieles ist Intuition“, so Gratkowski.

Im Herbst wartet ein größeres Projekt. Mit dem Moers erprobten Doppelquartett (jeweils zwei Holz- und Blechbläser, sowie zwei Bassisten und Schlagzeuger) geht es auf Europatournee: Antwerpen, Berlin, Amsterdam, Maribor, Graz, Wien, Wels sind die Stationen. In dieser Reihenfolge. Kein Tag Pause. „Die Reise wird chaotisch“, weiß Gratkowski jetzt schon. Die beiden Kontrabässe können nicht im Flugzeug transportiert werden. Sechs Musiker werden also fliegen, die übrigen werden mit den beiden Bässe im Kleinbus hinterher fahren. Amsterdam – Maribor nonstop. Nachts abgebaut, am nächsten Tag wieder auf der Bühne. Also eher das Hippie-Beatnik-On The Road-Feeling? „Verabschiedet euch mal ganz schnell davon, das ist purer Stress.“ Doch die widrigen Umstände schweißen zusammen. „Sobald das Konzert beginnt, macht es richtig Spaß“, sagt Gratkowski. Allein dafür lohne sich der Aufwand. „Da vergisst du den ganzen Rest.“

Gratkowski, Leandre, Blume9.9. Bielefeld, Bunker Ulmenwall10.9. Bochum, Museum Bochum11.9. Köln, Loft www.gratkowski.com