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berliner szenenTriumphdes Willens

Mehringdamm, Ecke Waterloo-Ufer. Auf der anderen Seite des Landwehrkanals ist die SPD-Zentrale. Keine Ahnung, warum sich gerade an dieser Kreuzung seit einigen Jahren täglich Jongleure und andere Fools einfinden, um sich vor wartenden Autos zu produzieren und dann schnell Geld einzusammeln.

Die Szene, die sich hier heute Mittag abspielt, ist dazu geeignet, auch denjenigen namenloses Erbarmen einzuflößen, die keinen Wert darauf legen, unaufgefordert mit Kunststückchen bespaßt zu werden. Der Artist, der sich den Fußgängerüberweg vor der Mehringbrücke erobert hat, hat nämlich nur ein Bein. Das andere ist oberhalb des Knies abgetrennt.

Jedes Mal, wenn die Autos anhalten, hüpft er auf seinem einzigen Bein auf die Kreuzung, die nun eine Rotphase lang seine Bühne ist. Auf einem Bein balancierend beginnt er, mit vier Tennisbällen zu jonglieren. Zum Schluss wirft er einen Ball auf den Asphalt und macht auf ihm Kopfstand. Und dann kommt’s: Gerade als ich mich frage, wann er Geld einsammeln will, wird es Grün. Er hüpft von der Fahrbahn und macht dem Verkehr den Weg frei.

Beim ersten Mal glaube ich noch, dass er sich mit der Zeit verschätzt hat. Doch bei der nächsten Ampelphase wiederholt sich das Spiel: Wieder wird auf einem Bein auf die Fahrbahn gehüpft, jongliert, ein Kopfstand gemacht. Dann geht es zurück auf den Bürgersteig, und der Verkehr rollt los. Er will offenbar gar kein Kleingeld einsammeln. Er will sich nur vor Publikum beweisen. Ein Triumph des Willens über das Schicksal, das ihm sein Bein genommen, ihn aber nicht bezwungen hat – selbst als ihm die Basecap vom Kopf geblasen wird und er dieser hinterherhüpfen muss. Ich weiß nicht, ob ich ihn bewundern oder bemitleiden soll. Und radel schließlich tief bewegt weiter. Tilman Baumgärtel

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