: Hüter der filmischer Erinnerung
Längst nicht alle norddeutschen Bundesländer haben ein eigenes Filmarchiv. Bremen schon. Dort wird das regionale Bewegtbilderbe in einem Einmannbetrieb durch Historiker Daniel Tilgner bewahrt
Von Wilfried Hippen
„Das Meiste wird weggeschmissen!“, klagt Daniel Tilgner gleich mehrmals in einem Gespräch über seine Arbeit als Archivar für bewegte Bilder in seiner Heimatstadt. Das Landesfilmarchiv Bremen sucht, sammelt und archiviert historische Filmdokumente zu Bremen, Bremerhaven und Norddeutschland. Und es sind insbesondere Gelegenheits- und Privataufnahmen, die Bremer in vergangenen Zeiten gemacht haben und die dann meist in Kellern oder auf Dachböden lagen und vergessen wurden. Für die Nachkommen waren dann vielleicht noch die gefilmten Geburtstagsfeiern oder Filmchen aus dem Urlaub interessant, aber sonst wandern fast alle alten Filmrollen in den Müll. Dabei sind sie für Tilgner Fundgruben, denn für ihn sind sie „historische Quellen, mit denen wir die Vergangenheit und damit andere Lebenswelten rekonstruieren können“.
Lang und breit kann er davon erzählen, was für ein Glücksfall es war, dass ein Bremer Beamter, der in den 1970er-Jahren zu den Ersten gehörte, die sich mit Verkehrsberuhigung beschäftigten, von seinen frühen Versuchen in der Stadt Filmaufnahmen machte. Die sind nun im Landesfilmarchiv gelandet. Ob diese Aufnahmen je irgendwo gezeigt werden, ist Tilgner dabei nicht wichtig: Er hat sie, sie werden fürs Archiv beschrieben, klassifiziert, verschlagwortet und katalogisiert. Und wenn sie in irgendeinem Kontext einmal nützlich sein sollten, dann sind sie da und bei ihm kann man auf sie zurückgreifen.
Bei Tilgner wird so gut wie nichts weggeschmissen – wohl auch nicht die kleine 8-mm-Filmrolle mit ein paar Minuten von Ausschnitten aus Charlie-Chaplin-Filmen, die irgendwie auf seinem Schreibtisch gelandet sind. Man gibt seine alten Filme bei ihm ab. Denn er ist ihr Hüter. Das Bremer Landesarchiv besteht gerade mal aus einer, nämlich seiner Stelle. Und weitere Mittel, um etwa Nachlässe zu kaufen, hat Tilgner nicht. Stattdessen bietet er einen Deal an: Wer alte Filme abgibt, bekommt eine digitale Kopie, und das Archiv darf dafür die Filmrollen behalten. Allerdings bräuchte er, um diese DVDs halbwegs professionell zu produzieren, einen digitalen Filmscanner, der 60.000 Euro kosten würde. Das Geld hat die Senatorin für Kinder und Bildung, zu deren Behörde das Archiv gehört, in Zeiten von undichten Schuldächern und fehlenden Lehrerstellen bestimmt nicht übrig. So wird also altmodisch an einem Schneidetisch digitalisiert, obwohl Tilgner weiß, dass diese Arbeit alles andere als auf der Höhe der Zeit ist.
Längst nicht jedes Bundesland hat ein eigenes Landesfilmarchiv: Im Norden haben außer Bremen noch Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern eins, Schleswig-Holstein und Niedersachsen sammeln ihre Bewegtbild-Erinnerungen in den Landesarchiven. Das Filmarchiv in Bremen ist aus der Landesbildstelle hervorgegangen, die einst Schulen und andere öffentliche Einrichtungen mit Lehrfilmen zu versorgen hatte. Da diese amtliche Einrichtung, wie der Name schon sagte, irgendwie für die Bilder des Landes verantwortlich war, wurden dort nicht nur Filme verliehen, sondern auch welche abgegeben. So kamen viele Nachlässe mit visuellen Medienträgern in ihren Besitz und in den 90er-Jahren wurde dann das Archiv gegründet. Erster Leiter war der Historiker und Medienpädagoge Diethelm Knauf. Die Landesbildstelle wurde dann ins „Zentrum für Medien“ umbenannt und statt der alten Filme gibt es dort nun Tausende von DVDs mit Lehrfilmen, deren Tage in den Zeiten des Verschwindens materieller Datenträger auch gezählt sein dürften.
In Bremen bekannt geworden sind Tilgner und sein Archiv durch eine Reihe von Projekten mit Radio Bremen. In dessen Regionalmagazin „Buten un Binnen“ gibt es immer mal wieder Beiträge zu historischen Themen, und dabei bedient sich die Redaktion gern bei Tilgner. Für den lohnt sich diese Zusammenarbeit, weil dadurch die Öffentlichkeit von ihm erfährt, und die Leute die alten Filme bei ihm abgeben statt sie wegzuwerfen. Voll Besitzerstolz erzählt er von den 70 Afrikafilmen, die ein Bremer Kapitän auf seinen Fahrten gedreht und nun dem Archiv vermacht hat.
Als Tilgner 2013 seine Arbeit im Archiv begann, wollte er nicht nur Bilder sammeln, sondern auch selbst welche machen. Er fand in den eigenen Beständen einen Lehrfilm aus dem Jahr 1971 mit dem Titel „Mit dem Hubschrauber über Bremen“, der aus Luftaufnahmen von den Sehenswürdigkeiten, Häfen und Industriegebieten der Stadt bestand. Tilgner hatte die Idee, die gleiche Strecke noch einmal abzufliegen und dabei Filmaufnahmen aus den gleichen Perspektiven zu machen.
Das Projekt war aufwendiger als gedacht. So waren eine große Zahl von Genehmigungen für den Flug notwendig und Tilgner hatte nicht damit gerechnet, dass über einer Stadt nur ein Hubschrauber mit zwei Antriebsmaschinen fliegen darf, wodurch sich die Miete um das Doppelte erhöhte. Doch mit der Hilfe von Sponsoren bekam Tilgner sein Budget von 20.000 Euro zusammen und flog im Jahr 2015 an zwei Tagen über die Stadt, wobei ihm die meiste Zeit speiübel war. Aber da er gut vorbereitet war – so hatte er für jeden der 90 Schnitte im alten Film eine Mappe mit der jeweils ersten und letzten Einstellung für den Piloten vorbereitet – gelang es ihm, verblüffend deckungsgleiche Aufnahmen zu machen.
Als Autodidakt schnitt er dann die beiden Filme zu einer langen Parallelmontage zusammen, sodass man sehr gut sehen kann, wie die Stadt sich in den über 40 Jahren verändert hat. Sein Film ist nicht vertont und um ihn zu vermarkten, müsste er professionell montiert werden, eine Filmmusik aufgenommen und ein professioneller Schauspieler den Text einsprechen. So ist er ein Torso geblieben, den Tilgner bisher etwa 30 Mal vorführte, wobei er jedes Mal selbst live den Text einsprach. Um ihn als Film fertigzustellen, fehlen ihm Zeit und Mittel. Inzwischen sieht er seinen eigenen Film als ein historisches Werk: In den zwei Jahren seit dem Flug hat sich die Stadt wieder deutlich verändert. Wichtig ist ihm aber, dass es den Film gibt, weil er den Zustand der Stadt zu einem Zeitpunkt dokumentiert. In zehn Jahren will er eine Fortsetzung drehen und den Flug mit dem Hubschrauber dann noch mal machen.
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