Wenn du reich bist, ist London das Paradies

Kevin Martin zog vor gut einem Jahr nach Berlin,wo er seine Zukunft fand. Heute Abend baut ersein Sound System im Gretchen auf

Kevin MartinFoto: Fabrice Bourgelle

Von Andreas Hartmann

Er kommt mit dem Fahrrad, grüßt höflich und entpuppt sich bald als der angenehmste Gesprächspartner, den man sich ausmalen kann. Irgendwie hatte man sich Kevin Martin, der vor gut einem Jahr mit seiner Familie von London nach Berlin gezogen ist, anders vorgestellt. Grummeliger, schroffer, abweisend. Ein wenig so wie seine Musik. Die hat sich in den fast 30 Jahren, in denen Martin nun produziert, zwar immer wieder verändert – vom Jazzcore mit der Band God über Industrialrock als Techno Animal und Ice hin zu Dancehall mit seinem wohl bekanntesten Projekt The Bug – doch stets wirkte sie apokalyptisch und misanthropisch. Auch Kevin Martin live bedeutet immer brutale Lautstärke, gesundheitsgefährdende Bässe und auf der Bühne einen Musiker im obligatorischen Hoodie, der sich hinter einem Vorhang aus Trockeneis versteckt.

Im Kreuzberger Club Gretchen, wo er seit einer Weile seine unregelmäßig stattfindende Clubnacht Pressure mit wechselnden Gästen durchführt, beantwortet er jede Frage offen und ehrlich. Ist er mal am Reden, ist er kaum noch zu stoppen. Im Schnelldurchlauf bekommt man einen Einblick in das Leben von Kevin Martin, ohne dass man groß jedes Detail aus ihm herauskitzeln müsste. Er erzählt von seiner Jugend in der englischen Küstenstadt Weymouth und den Problemen, die er mit seinem Vater hatte. Davon, wie er Punk und Industrial entdeckte, Fan von radikalen Bands wie Throbbing Gristle und Discharge wurde. Und sehr viel von seiner Hassliebe zu London, der Stadt, in die es ihn Ende der Achtziger verschlug und der er vor zehn Jahren seine düstern scheppernde Dancehall-Platte „London Zoo“ widmete.

Alles was ihn heute als Musiker ausmacht, kommt durch seine Sozialisation in London und der dortigen Reggae- und Dancehallszene, geprägt von jamaikanischen Migranten samt ihrer Sound-System-Kultur. Und doch ist er nun hier, in Berlin, der Technostadt. Weil es einfach nicht mehr ging in London. „Dort gibt es nur noch Fashion und Geld“, sagt er, „wenn du reich bist, dann ist London das Paradies.“

Er möchte den Berlinern die Kevin-Martin-Version von Reggae und Dancehall näherbringen

Selbst als Kevin Martin als The Bug relativ bekannt wurde und auf dem renommierten Label Ninja Tune veröffentlichte, musste er eine Zeit lang in seinem Studio wohnen, weil das Geld für eine Wohnung nicht reichte. „Zum Duschen musste ich immer ins Gym, es war nur noch ein Überlebenskampf in London“, erzählt er. Inzwischen ist er verheiratet mit einer Japanerin, die bekam dann auch noch Probleme mit ihrem Visum in England, und damit reichte es endgültig. Barcelona und Amsterdam waren Optionen, doch dann entschied er sich für einen Ortswechsel an die Spree, „weil Berlin eine Musikstadt ist“.

Mit der ihn schon eine Weile einiges verbindet. Er sei Fan der Einstürzenden Neubauten, erzählt er, und mit dem Berliner Alec Empire betrieb er eine Weile lang das Projekt Curse of the Golden Vampire. Der in Berlin lebende Caspar Brötzmann veröffentlichte außerdem eine Platte zusammen mit seinem Vater Peter auf Martins eigenem, inzwischen eingestellten Label Pathological, die bislang einmalige Zusammenarbeit des Gitarrenberserkers mit der Free-Jazz-Ikone.

Er sei nicht mit allem zufrieden in Berlin, berichtet er, Friedrichshain, wo er nun wohnt, könne seinem Geschmack nach etwas multikultureller sein, auch mache er sich Sorgen wegen des Erstarkens der AfD in Deutschland – seine japanische Frau sei in der Nähe ihrer Wohnung bereits übel rassistisch beleidigt worden. Gleichzeitig fühle er sich aber auch wohl hier, habe bereits einen Freundeskreis aufgebaut, die Stadt fühle sich wie das Zuhause an, das er in London nie hatte. „In Berlin habe ich eine Zukunft gefunden“, sagt er.

Zu dieser Zukunft gehört auch, dass er eigene Duftmarken in der Stadt setzen möchte. Im Gretchen hat er sein eigenes Sound System gelagert, das für seine Pressure-Nächte auf die Bühne des Clubs gewuchtet wird. Damit möchte er den Berlinern seine Sound-Vorstellungen, die Kevin-Martin-Version von Reggae und Dancehall näherbringen. Also nicht die reine Lehre von jamaikanisch geprägter Musik, sondern einen Basswumms, der von Reibungen und Widersprüchen geprägt ist und der mit Bob-Marley-Kifferseligkeit nichts gemein hat.

Das Sound System von Kevin Martin Foto: Promo

Die Iration Steppas, ein Dub-Kollektiv aus dem englischen Leeds, von dem Martin Fan ist, wie er sagt, wird heute Abend bei Pressure genauso auftreten wie Porter Ricks, Berliner Dub-Techno-Pioniere der ersten Stunde. Und Martin selbst wird Riddims für die seit einer Weile in Berlin lebende Israelin Miss Red pumpen, deren neues Album er gerade auch produziert.

„Ich höre oft, meine Musik sei dunkel“, sagt Kevin Martin am Ende des Gesprächs. „Ich halte das für Quatsch. Ich will ganz im Gegenteil den Leuten Licht bringen.“ Und es soll unbedingt getanzt werden, zu Bässen und bei einer Lautstärke, so verspricht er, die einem noch Tage später in den Ohren klingeln werden.

Pressure. Heute ab 22 Uhr im Gretchen. Mit The Bug, Porter Ricks, Iration Steppas, Miss Red