ZEIT.ORTE

Lazarus undseine Schwestern

Jana Janika Bach, geboren 1983, freie Autorin, arbeitet unter anderem für die taz, die Berliner Zeitung und das Deutschlandradio zu Kultur und zeitgenössischer Kunst. Darüber hinaus schreibt sie Hörspiele und literarische Texte. Aktuell lebt und arbeitet Bach in Berlin und New York.

Jana Janika Bach

Katharina kniff die Augen zusammen. Sie mochte es, die Welt so zu verkleinern, zu einem Schlitz, dem Blick durch einen Türspalt gleich.

Zwei Hexenhüte am Ende der Muskauerstraße, mittig zwischen den hochgeschossigen Mietshäusern am Horizont, die Türme des Bethaniens. Es fiel noch immer vom Himmel. Schnee, der nicht liegen blieb, nur die Pflastersteine dunkel färbte.

Am Mariannenplatz angelangt überquerte Katharina die Freifläche und erklomm die flachen Stufen des Treppenrunds bis zur Empore, das dem einstigen Ausbildungsinstitut evangelischer Schwestern vorgesetzt war.

Irgendwo dahinter, weiter gen Westen, erstreckte sich der bis auf das Engelbecken trocken gelegte Luisenkanal, im Norden begrenzte die St. Thomas Kirche und im Süden Mühlenhaupts Feuerwehrbrunnen den angelegten Park.

Katharina schaute zurück, ihr Blick folgte der Strecke, die sie gekommen war. Es schien, als sei diesem kreisförmigen Vorhof des Bethaniens, in seiner Leere und Weite so immens, etwas abhandengekommen. Ein Eindruck, genau der Gleiche wie vor sechs Jahren, als Katharina mit Anton zum ersten Mal das Gelände hier erkundet hatten – nur damals die weiten Liegewiesen der hofseitigen Anlagen in Grün, Insektenflirren, Vogelpiepen, das Rauschen des Sommers.

Jetzt säumte das Zentralgebäude, ein mit gelben Ziegeln verblendeter Mauerwerkbau, dürftige Vegetation, karge Bäume und Sträucher. Seitlich des Portals, das unterhalb der Glocke eingelassen war, reihten sich unvorschriftsmäßig geparkte Fahrräder.

„Was ist?“, hatte Anton sie angegrinst, eine schlanke Silhouette in dunklen Hosen und weißen Shirt, die sich erst, da Katharina ihn erreicht hatte, aus dem Schatten des Hauses löste und sie in die Arme schloss. Eine Bärenumarmung, er war hochgewachsen und trotz des schmalen Körpers kräftig. „Komm, da ist noch Platz für dein Rad.“

Später an jenem Nachmittag hatten sie sich noch auf eine der Wiesen am Mariannenplatz ins Gras fallen lassen, waren eingenickt, bis kühlere Abendluft sie weckte. Auch an anderen Tagen verbrachten sie hier viele Stunden, lasen Zeitung oder unterhielten sich. Dazu Antons Gesichtszüge, entspannt, wenn er mit verschränkten Armen hinter dem Kopf rücklings den Himmel betrachtete. Oder zusammengezogen, die buschigen Augenbrauen, er hatte es den Mücken angetan.

Katharina drehte ihr Handgelenk. Zwölf Uhr Fünfundvierzig. Sie betrat die Empfangshalle. Bogengänge, angeordnet im Karree. Darüber eine von Säulen ­getragene Balustrade. Verwinkelte Treppen führten beidseitig nach oben. Alles, bis auf die Holzbalken an der Decke, Ornamenten verziert und in Pastellfarben.

„Dieser repräsentativen Halle schließt sich eine dreischiffige Basilika an“, hatte Anton erklärt und war dabei auf und ab spaziert. „Errichtet wurde die Central-Diakonissenanstalt und das Krankenhaus Bethanien Mitte des 19. Jahrhunderts, ein Vermächtnis des frommen Königs Friedrich Wilhelm IV“, und mit spitzen Lippen: „dem Romantiker unter Preußens Thronfolgern.“ Katharina hatte gelacht und Anton einen Vogel gezeigt: „Woher weißt du das wieder?“ „Das bringt mein Beruf mit sich.“ „Du bist Ethnologe!“

Eine Kinderschar in Wintermänteln und mit Instrumenten bepackt tönte an Katharina vorbei. Unterrichtsende der Musikklasse. Statt den Gang rechts hinunter zur aktuellen Ausstellung des Projektraums einzuschlagen, bog Katharina links Richtung Restaurant ab. Für einen Moment verharrte sie im Vorraum. Zwei Sessel auf der einen Seite, Königsblau mit Tupfern in der Farbe von Jauche. Zur anderen blickte sie in ihr Spiegelbild. An der Schrankgarderobe hing nur ein Hut. Ihr Gesicht daneben, blass, umrahmt von schwarzem, glatten Haar. Sie strich über ihr Kleid, das, wie die Feinstrumpfhose viel zu kalt für die Wetterlage war.

13 Uhr. Der Kellner bestätigte den Namen und wies ihr den Tisch für zwei Personen am Fenster. „Darf ich schon etwas bringen?“ „Riesling bitte.“ „Gerne.“ Katharina betrachtete die Rundbögen und das Mosaik über der Theke. Ein heller Saal, in dem einst auch die Diakonissen der Schwesterngemeinschaft gemeinsam gespeist hatten.

Wenn auch nicht an kleinen Tischen, die heute ausnahmslos belegt waren, sondern an einer einzigen langen Tafel. Ein Kinderwagen versperrte dem Kellner den Weg, Tellergeklapper und lautes Lachen. Eine Krähe hopste draußen aufs Fensterbrett.

„Komm! Das wird dir gefallen.“ Anton war schon vorausgeeilt, beinahe hüpfend, den Flur hinunter: „Verwirklicht wurden für das Bethanien Pläne des Königs, die des Hofberaters Persius, des geheimen Baurates Stüler und des Regierungsrates Stein.“ Katharina hatte Mühe gehabt, ihn einzuholen. „Hör auf, sonst boxe ich dich.“ „Draußen, die Grünanlage, hat im Übrigen Joseph Lenné entworfen.“ „Gott, du bist so ein Klugscheißer.“ „Gott ist tot“, Anton war zum Stehen gekommen: „Nietzsche auch.“ „Das ist Blasphemie!“

„An diesem Ort allemal. Immerhin verweist das Bethanien mit seinem Namen doch auf den biblischen Ort, an dem Jesus Lazarus von den Toten auferstehen ließ.“ „Glücklich, wer an Wunder glaubt.“ Katharina war außer Atem geraten. „Oh, die Medizinerin spricht, immerhin würde das dem Ende den Schrecken nehmen, oder nicht?“

„Seit wann bist du so Gottes gläubig?“ Sie setzten sich wieder in Bewegung. „Bin ich nicht. Nur der Gedanke hat etwas, finde ich, wenn der Tod nicht, wie Sartre ihn entwarf, als grausiges Ereignis über uns kommt.“ Der Gang, weiß, Grünzeug hinter den Fenstern. Ein gelber, schlaffer Luftballon in einer Ecke. „Heidegger zum Beispiel war geradezu verliebt in den Tod.“ Katharina band sich die Haare zurück: „Theoretisch. Oder weißt du, wie er dann am Schluss empfand? Ich denke, man sollte das Ende weder fürchten noch ersehnen. Überhaupt, wie kommst du darauf?“

Anton hatte kurz geschwiegen. „Mir geht Epikur nicht aus dem Kopf, er meinte, dass uns der Tod im Grunde nichts angeht, wenn er da ist, sind wir es nicht mehr.“ Katharina ließ sich hinter Anton zurückfallen, hielt wieder mit ihm Schritt: „Das ist vielleicht plausibel, aber doch sehr ich-zentriert. Was ist mit denen, die zurückbleiben, wenn einer verschwindet?“ Anton zuckte mit den Schultern: „Sie machen weiter. Ändert sich nicht viel. So bedeutend ist der Mensch nicht.“ „Bitte, das ist Quatsch. Es tangiert die Welt womöglich nicht, wenn X-Ypsilon stirbt, aber doch den Einzelnen, sein Umfeld.“

„Der Tod ist und bleibt Wetzstein für die Lebenden.“ „Sagt wer?“ „Sagt Schopenhauer.“ „Das Dilemma mit den realitätsfernen Philosophen. Das hat wirklich etwas Trostloses.“ Anton schloss kurz die Augen, dann breitete er die Arme aus: „Ich finde das hier tröstlich.“ „Was genau?“ „Das ganze alte Gebäude.“ Er machte eine Pause: „Die Dinge, die uns überdauern.“ Niemand außer ihnen in den Gängen, von der Hitze des Tages war im Inneren des Diakonissen-Hauses nur wenig zu spüren. „Stopp, hier ist es, cool, oder?“

Sie hatten die Hände an die Glastür gelegt, um besser einsehen zu können.In dem Raum dahinter waren Tinktur-Fläschchen und Waagen in diversen Größen in dunkle Regalwände mit Schildern aus Emaille einsortiert. Ein feuerroter Eimer aus Gusseisen unter einem der Arzneischränke, daneben Wattebäusche, eine Mühle, Besteck. „Erste Oberin des 350-Bettenhauses war Marianne von Ratzau“, Anton, ohne sich von der Scheibe abzuwenden: „Zu ihrem Arbeitsstab gehörte auch Theodor Fontane, er bildete ebenso Schwestern aus und arbeitete hier in der Krankenhaus-Apotheke.“ „Ist das im Original erhalten?“ „Teilweise.“

Sonnenstrahlen drangen durch eines der Fenster. Sie hatte sich ihm zugewendet, Antons Schopf im Licht, fast weißlich. Katharina strich sich mit dem Finger über den Nasenrücken. „Wie lang das hier schon alles existiert, da kommt einem das eigene Leben noch kürzer vor. Fast so, als läge die Zukunft schon hinter uns.“ „Das ist im Grunde auch richtig.“ „Spinnst du?“

„Es kommt nur auf die Perspektive an.“ Anton pustete sich unter das T-Shirt: „Das Volk der Aymara zum Beispiel glaubt, dass die Zukunft hinter uns und die Vergangenheit vor uns liegt.“ „Ein anderes Konzept?“ „Ja und ist es nicht viel logischer? Wenn wir unserem Weg folgen, dann dienen Erfahrungen uns als Richtungsweisung, wir können sie einsehen. Das, was wir nicht kennen, ist die Zukunft, unabänderlich im Nebulösen verortet.“ „Gefällt mir. Was war das?“ „Mein Magen.“ „Dann los, lass uns einen Happen essen gehen. Hier bei den Drei Schwestern.“

„Wieso drei? Lazarus hatte nur zwei Schwestern. Martha und Maria.“ Katharina kicherte: „Du weißt das alles, aber kennst das Märchen der drei Schwestern nicht?“ Antons Stirn in Kräuseln. „Es handelt von einem König, der seine Töchter einem Bären, einem Adler und einem Walfisch verspricht.“ „Lecker, du kannst mir beim Essen davon erzählen.“

Katharina trank aus, zahlte und steuerte, ihren Mantel unterm Arm, auf die Terrassentür zu. Sie war unverschlossen. Die Metalltreppe führte in den Biergarten, „außer Betrieb“ stand auf dem Schild über den zusammengestellten Stühlen. Sie beschloss, von hier aus das Bethanien zu umrunden. Am Georg-von-Rauch-Haus vorbei.

Das hatte Anton besonders gerngehabt. Wegen dessen bewegter Geschichte, unwillkürlich lächelte Katharina, und wegen Rio Reiser.

Die Flocken schmolzen, kaum, da sie sie ihr Gesicht erreichten. In ihrem Rücken befand sich jetzt der Mariannenplatz, vor ihr der Bethaniendamm, was weiter vor ihr lag, das wusste sie nicht.