Ussamas Gastgeber

VON BERNARD IMHASLY

„Paschtunwali“ heißt das Stammesgesetz der Paschtunen. Dieser in Geschichten und Volksliedern überlieferte Ehrenkodex der Menschen im Grenzgebiet von Pakistan und Afghanistan regelt nicht nur die Ausrichtung von Festen. Er schreibt auch vor, wie Männer die Ehre der Frauen zu verteidigen haben, wer getötet darf und wer nicht („eine Frau, ein Hindu, ein Bänkelsänger, ein unbeschnittener Knabe“). Die zwei wichtigsten Paschtunwali-Grundsätze beschreiben zugleich die beiden Extreme des Volkscharakters: Blutrache und Gastrecht. Sie sind absolut bindend und sogar der islamischen Scharia übergeordnet. Was Ussama Bin Laden in den Achtzigerjahren, als er von hier aus die afghanischen Mudschaheddin mit Waffen und Geld versorgte, schützte und was ihn wohl bis heute gerettet hat, ist dieses Gesetz der Gastfreundschaft.

Und die Paschtunen sind mit dem Gastrecht freigiebig. In den Achtzigern kamen auch die afghanischen Mudschaheddin in den Genuss, dann ausländische Freunde wie beispielsweise die CIA. In den Neunzigern kam wieder reger Besuch aus Afghanistan – als die Mudschaheddin nach dem Abzug der Sowjets das Land siegestrunken ein zweites Mal in Schutt und Asche legten, siedelten viele Madrassen um, die Koranschulen, die bald die jungen Paschtunen aus den Flüchtlingslagern zu „Islamschülern“ und Befreiungskämpfern ausbildeten. Und am Ende waren es die Taliban, die gekommen und gegangen sind.

Islamisten sind stark

Obwohl inzwischen in Kabul ein Paschtune auf dem Präsidententhron sitzt und der greise König Sahir Schah – auch er Paschtune – aus seinem römischen Exil zurück ist und unter den Aprikosenbäumen der Hauptstadt seine letzten Tage verbringt, ist es so eine Sache geworden mit dem Gastrecht im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Und das liegt vor allem an einem Besucher, wenigstens vermutet ihn alle Welt hier: Ussama Bin Laden. Seitdem zum ersten Mal in der fünfzigjährigen Geschichte Pakistans 2003 reguläre Armee-Einheiten in die „Federally Administered Tribal Areas“ (FATA) im westlichen Pakistan einmarschiert sind und den Stämmen ihre bisherige Autonomie genommen haben, ist er Freiwild. Zwar nicht für seine potenziellen Gastgeber unter den Yusufzai-, Afridi-, Ghilzai- und Waziri-Paschtunen, aber für die amerikanischen Satelliten und die Spähtrupps der pakistanischen Armee.

Die Folgen des 11. Septembers haben aber weit über die FATA hinaus in ganz Pakistan eine innenpolitische Dynamik entwickelt, die vor allem islamischen Parteien Auftrieb gab. Sie sehen es noch immer als Verrat an den Glaubensbrüdern, dass sich der Militärherrscher Pervez Musharraf, wenn auch widerwillig, den Amerikanern angeschlossen hat. Und offenbar tun das auch viele Paschtunen. Bei den Wahlen im Oktober 2002 gewann eine islamische Fünf-Parteien-Allianz ausgerechnet im Provinzparlament der „North-West Frontier Province“ (NWFP), in der die meisten Paschtunenstämme beheimatet sind, eine Mehrheit. Auch südlich davon, im benachbarten Belutschistan, sicherten sich Muslime die Teilnahme an der Regierung. Damit untersteht nun die ganze Grenzregion zu Afghanistan auch der Gewalt jener Parteien, die in den Neunzigerjahren die Taliban-Schulen eingerichtet hatten und sie seit 2002 kontrollieren. Die Zahl dieser Madrassen wird inzwischen auf mehre tausend geschätzt. Denn was liegt näher, als den Glaubensfeind mit dem gleichen Vorgehen zu bekämpfen, das bereits zweimal – mit den Mudschaheddin in den Achtziger- und mit den Taliban in den Neunzigerjahren – Erfolg hatte: Ausbildung von Kämpfern, Einschleusen nach Afghanistan, Bereithaltung von Rückzugsräumen.

Das Interesse Musharrafs

Die Mächtigen im Land beobachten diese Entwicklung nicht ohne Wohlwollen, und das hat nicht nur mit Religion zu tun. Pakistan ist eine Demokratie, doch eine, in der die Armee immer noch das Sagen hat. Und mit der Truppenpräsenz im paschtunischen Grenzgebiet – im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ – hat der Präsidenten-General zwei Möglichkeiten, mit der dortigen Entwicklung umzugehen. Er kann versuchen, sie zu stoppen – oder zu fördern, wenn es im nationalen Interesse ist. Und in den Augen der Armee ist es Letzteres, aus den gleichen Gründen, die bereits in den Achtziger- und Neunzigerjahren die pakistanische Grenzregion zu einem Aufmarschgebiet gegen Afghanistan gemacht hatten. Das Gespenst der Taliban am Leben zu erhalten, ist für Musharraf nützlich, da mag er noch so lauthals seine Solidarität mit der internationalen Gemeinschaft und seinen Einsatz gegen den Al-Qaida-Terror beteuern, Schulter an Schulter mit dem neuen Regime in Kabul.

Die Vertreibung der Taliban im November 2001 war eine schwere Niederlage Pakistans, und sie wurde auch so empfunden. Nicht nur, weil Islamabad seines bestimmenden Einflusses in Kabul beraubt war, den es sich erkämpft hatte, als es 1997 die Taliban in Kandahar und Kabul auf den Thron setzte, auch weil Pakistan damit einen westlichen Nachbarn gewann, der ihm weniger Rückendeckung bot gegen den indischen Feind im Osten. Denn Indien ist und bleibt für viele Pakistaner, gerade aus der militärisch-bürokratischen Elite, der gefährliche große Bruder, der sich mit der Existenz eines islamischen Staats nie abgefunden hat und alles unternimmt, die Trennung von 1947 rückgängig zu machen. Die öffentliche Meinung Pakistans mag sich von dieser Angstvision befreit haben – die Sicherheitspolitik Pakistans bleibt weiterhin von ihr bestimmt.

Es sind ausgerechnet die Stammesgebiete der Paschtunen – weit weg von der indisch-pakistanischen Grenze –, die heute die Ängste der Militärs noch vertiefen. Die Gründe dafür reichen lange zurück, etwa ins Jahr 1947, als es nicht Indien, sondern Afghanistan war, das als einziges Land gegen die Aufnahme Pakistans in die UNO stimmte. Was dem Nachbarn damals nicht schmeckte, war der Verlauf der Westgrenze des neuen pakistanischen Staates. Sie folgte nämlich der Markierung von Sir Mortimer Durand, die dieser 1898 als provisorische Linie gezogen hatte, um die Einflussbereiche des afghanischen Königreichs und der britischen Krone festzulegen. Damals kursierte das Bonmot, Durand habe die Grenzziehung dem afghanischen König nur deshalb abgerungen, weil dieser glaubte, der aristokratische Engländer sei ein entfernter Verwandter von ihm – König Abderrahman entstammte dem paschtunischen Durrani-Clan.

Die „Durand-Linie“ wurde von Afghanistan aber nie als offizielle Grenze anerkannt, da sie mitten durch paschtunisches Stammesgebiet führt. Heute wohnen in Pakistan rund 16 Millionen Paschtunen, in Afghanistan 9 Millionen. Und noch immer weigert sich der neue Paschtunen-Herrscher in Kabul, die FATA als Teil Pakistans anzuerkennen. Im Gegenteil – der Durand-Vertrag ist 1998, nach hundert Jahren, abgelaufen, und damit ist die Grenze für Afghanistan wieder weit offen.

Aber sie ist es auch für Pakistan. Mit der Installierung der Taliban in Kabul hatten die pakistanischen Generäle gehofft, sich endgültig eine solide Rückendeckung zu sichern und das Gros ihrer Divisionen im Grenzgebiet zu Indien stationieren zu können. Der Sturz der Islamschüler zerstörte dieses strategische Kalkül, und die enge Kooperation zwischen Taliban und Al-Qaida-Kadern zwang das Regime zudem, ausgerechnet jenen Kämpfern den Krieg zu erklären, die sein militärischer Geheimdienst in Zusammenarbeit mit den islamischen Parteien so sorgfältig aufgebaut hatte.

Die Achse Kabul–Delhi

Was die Lage für Musharraf noch ungemütlicher macht, ist die offene Freundschaft, welche die neue Karsai-Regierung in Kabul dem Erzrivalen Indien entgegenbringt, ganz abgesehen von der großen Popularität, mit der das Taliban-befreite Volk indische Filmsongs und Bollywood-Stars feiert. Delhi hatte zur Zeit der Taliban die Nord-Allianz unterstützt, und mit dem Regimewechsel in Kabul öffneten sich ihm plötzlich alle Türen. Die Inder kosteten den Triumph aus. Ausgerechnet in den beiden Grenzstädten Kandahar und Dschalalabad eröffnete es 2003 ein Generalkonsulat. Das pakistanische Außenministerium bezeichnete das damals als unfreundlichen Akt.

Es sind diese historischen und politischen Lasten, die erklären, warum die Taliban vier Jahre nach ihrer Vertreibung plötzlich wieder in Afghanistan auftauchen, warum sich in Pakistan immer noch Al-Qaida-Verbände aufhalten und wahrscheinlich auch Ussama Bin Laden weiterhin das Gastrecht des Paschtunwali genießt.

Zwar tun die beiden Nachbarn Pakistans ihr Möglichstes, Islamabad zu beruhigen. Bei seinem Kabul-Besuch vor zwei Wochen verzichtete der indische Premierminister Manmohan Singh auf einen Besuch von Dschalalabad, um die misstrauischen Pakistaner nicht noch mehr zu reizen. Und Präsident Karsai sprach ausdrücklich nicht von einer Achse Delhi–Kabul, sondern vom Ziel einer Dreieckskooperation. Doch die Popularität der indischen Besucher in Afghanistan blieb den misstrauischen Nachbarn nicht verborgen. Während die pakistanische Botschaft in Kabul wegen der Gefahr von Protestdemonstrationen eine Extrabewachung erhielt, konnte Indiens Premier Singh der Grundsteinlegung zum Bau des symbolträchtigen Parlamentsgebäudes beiwohnen, der von Indien finanziert und ausgeführt wird. Pervez Musharraf wird daher auch weiterhin dem Terror den Kampf ansagen – und seinen Geheimdienst gewähren lassen, wenn dieser mithilfe der Taliban die Welt wissen lässt, dass die Afghanistan-Frage nicht gelöst ist – Ussama Bin Laden hin oder her.